Klassisches Chinesisch
Das klassische Chinesisch (chinesisch 文言文, Pinyin Wényánwén – „Literatursprache“) im engeren Sinne bezeichnet die geschriebene und wohl auch gesprochene Sprache Chinas während der Zeit der Streitenden Reiche (5.–3. Jahrhundert v. Chr.). Im weiteren Sinne umfasst dieser Begriff auch die bis ins 20. Jahrhundert benutzte chinesische Schriftsprache.
Das klassische Chinesisch gilt als Vorläufer aller modernen sinitischen Sprachen und bildet die letzte Phase des Altchinesischen. In der geschriebenen Sprache löste es im 5. Jahrhundert v. Chr. das präklassische Altchinesisch ab. Seit der Qin-Dynastie wurde das klassische Chinesisch allmählich zu einer toten Sprache, die als literarische Sprache jedoch bis in die Neuzeit Bestand hatte.
Überlieferung
Das klassische Chinesisch ist durch zahllose Texte überliefert. Neben Inschriften aus allen Zeiten seit der Spätzeit der Östlichen Zhou-Dynastie (770-221 v. Chr.) sind vor allem eine große Anzahl literarischer Texte zu nennen, deren Bedeutung für die chinesische Kultur nicht überschätzt werden kann. Von besonderer, kanonischer Bedeutung sind die konfuzianistischen Vier Bücher; auch Schriften anderer philosophischer Richtung wie die Schriften des Mozi sowie das Daodejing entstanden in der klassischen Phase. Ebenfalls zu nennen sind historische Texte, darunter die Frühlings- und Herbstannalen und das Zuozhuan sowie sonstige literarische Werke, beispielsweise die „Kunst des Krieges“ des Sunzi. Alle diese Werke beeinflussten die chinesische Literatur späterer Zeiten sehr stark, was die Konservierung des klassischen Chinesisch als Literatursprache begründet.
Geschichte und Verwendung
Das klassische Chinesisch beruht auf der gesprochenen Sprache der Endphase der Zhou-Dynastie, der Spätphase des Altchinesischen. Nach der Zeit der Qin-Dynastie entfernte sich das gesprochene Chinesisch zunehmend vom klassischen Chinesisch, das − auch aufgrund der in ihm verfassten Literatur mit ihrer immensen Bedeutung für die konfuzianische Staatsdoktrin späterer Zeiten − kanonische Bedeutung erhielt und bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts als Schriftsprache in der Literatur und in amtlichen Dokumenten Verwendung fand. Zwar zeigen jüngere Texte in klassischem Chinesisch Einflüsse der entsprechenden gesprochenen Sprache, insgesamt zeigen jedoch alle diese Texte gemeinsame Merkmale, die sie deutlich von jüngeren Formen des Chinesischen abgrenzen.
Seit dem 20. Jahrhundert wird als Schriftsprache vor allem modernes Hochchinesisch benutzt, doch man findet auch in modernen Texten häufig Zitate und Passagen in klassischem Chinesisch, vergleichbar den juristischen Texten im Deutschen, die lateinische Phrasen enthalten. Auch kennt der Volksmund viele Anekdotenwörter (chinesisch 成語 / 成语, Pinyin chéngyǔ), die meist aus vier Zeichen bestehen und die grammatischen Strukturen des klassischen Chinesisch aufweisen.
Klassisches Chinesisch wird zwar an den Schulen gelehrt, die Kompetenz der Schüler umfasst jedoch meist nur das Leseverständnis, nicht das Verfassen von Texten. Dennoch nimmt auch die Lesekompetenz in Bezug auf klassisches Chinesisch in der Bevölkerung ab.
Regionale Verbreitung
Dialekte
Bereits in der Antike war das chinesische Sprachgebiet in mehrere Varietäten aufgeteilt, die sich während der klassischen Zeit auch in der geschriebenen Sprache niederschlugen. Pulleyblank 1995 unterscheidet dabei die folgenden Dialekte:
- einen der präklassischen Sprache nahestehenden Dialekt
- einen in Lu beheimateten Dialekt, der u.a. in den Analekten des Konfuzius und dem Buch Mencius Verwendung fand
- den Dialekt von Chu
- einen späteren Dialekt, der bereits auf eine Standardisierung hinweist
Seit der Qin-Dynastie, als das klassische Chinesisch zunehmend zu einer toten Sprache wurde, fand eine starke Vereinheitlichung der klassischen Sprache statt, während sich im gesprochenen Chinesisch die regionalen Unterschiede verstärkten.
Verbreitung außerhalb von China
Nicht nur China, sondern auch Korea, Vietnam und Japan verfügen über die Tradition des klassischen Chinesisch, wobei anzumerken ist, dass jeweils eine unterschiedliche Lesung der Silben der Schriftzeichen tradiert ist. Dies liegt in der Anpassung der jeweils übernommenen Sprachentwicklungsstufe des Chinesischen und dessen Anpassung an die phonetische Struktur der Zielsprache begründet. Besonders komplex ist diese Situation in Japan, wo zu verschiedenen Zeiten aus dem Chinesischen Aussprachen entlehnt wurden und so im modernen Japanisch verschiedene Stadien des Chinesischen konserviert sind. Koreanisch und Vietnamesisch haben eigene, komplette Aussprachesysteme. Auf Koreanisch werden beispielsweise die Schriftzeichen für wényán als mun ŏn 문언, auf Vietnamesisch als văn ngôn gelesen.
Schrift
Hauptartikel: Chinesische Schrift
Das System der chinesischen Schrift der klassischen Periode unterscheidet sich nicht wesentlich von der Schrift anderer Perioden: auch im klassischen Chinesisch steht ein einzelnes Zeichen (in der Regel) für ein einzelnes Morphem. Von der größten Veränderung der Schrift nach der klassischen Periode, der Einführung der Kurzzeichen in der Volksrepublik China, wurde das klassische Chinesisch nicht erfasst; es wird weiterhin ausschließlich mit den traditionellen Langzeichen geschrieben.
Phonologie
Da die chinesische Schrift weitgehend lautunabhängig ist, lässt sich die Phonologie des antiken Chinesisch nur indirekt rekonstruieren. Zusätzlich ist zu beachten, dass sich die Aussprache des klassischen Chinesisch zusammen mit der Aussprache der gesprochenen Sprache wandelte. Für das Verständnis der Grammatik des klassischen Chinesisch ist jedoch hauptsächlich die Lautung der späten Zhou-Zeit von Bedeutung. Hierfür gibt es im Wesentlichen drei Quellen:
- die Reime des Shijing aus der frühen Zhou-Dynastie
- Rückschlüsse aus der Anwendung phonetischer Elemente zur Bildung von Zeichen
- das Qieyun (601 n. Chr.), das die Zeichen nach Anlaut und Reim ordnet
- Schreibungen chinesischer Namen in fremden Schriften, chinesische Transkriptionen fremder Namen und Wörter, chinesische Lehnwörter in fremden Sprachen
Von diesen Quellen ausgehend lassen sich zwei Zustände rekonstruieren: das Altchinesische, das einen einige Jahrhunderte vor die klassische Zeit zurückreichenden Zustand reflektiert sowie das im Qieyun wiedergegebene Mittelchinesisch. Diese Rekonstruktionen sind in besonderem Maße mit dem Namen Bernhard Karlgrens verbunden, der aufbauend auf den besonders während der Qing-Dynastie von chinesischen Gelehrten gewonnenen Erkenntnissen als erster versuchte, mithilfe von aus der europäischen Linguistik bekannten Lautgesetzen die Phonologie des antiken Chinesisch zu rekonstruieren. Inzwischen existieren eine ganze Reihe weiterer Rekonstruktionsversuche, von denen allerdings keiner eine allgemeine Zustimmung erlangt hat.
Das Lautinventar des Altchinesischen ist stark umstritten, hinsichtlich der Silbenstruktur sind jedoch einige Aussagen möglich. So wird davon ausgegangen, dass sowohl im An- als auch im Auslaut Konsonantencluster möglich waren, während im Mittelchinesischen im Anlaut nur einfache Konsonanten und im Auslaut sogar nur eine sehr begrenzte Auswahl von Konsonanten erlaubt war. Ob das Altchinesische eine Tonsprache war, ist umstritten; die Mehrheit der Wissenschaftler führt die mittelchinesischen Töne jedoch auf die Einwirkung bestimmter Endungskonsonanten zurück. Im Mittelchinesischen dagegen existierten bereits vier Töne, aus denen sich die meist wesentlich komplexeren modernen Tonsysteme ableiten.
Zur Transkription
Es wurde zwar verschiedentlich versucht, das Klassische Chinesisch mithilfe rekonstruierter Lautformen zu transkribieren, aufgrund der großen Unsicherheiten hinsichtlich der Rekonstruktion ist ein solches Vorgehen jedoch fraglich. Daher wird im Folgenden die Lautumschrift Pinyin benutzt, welche die Aussprache der modernen chinesischen Hochsprache Putonghua wiedergibt. Es sei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Lautungen des Hochchinesischen in Bezug auf das klassische Chinesisch nicht selten irreführend sind und etymologische Zusammenhänge verschleiern.
Grammatik
Die folgende Darstellung der wesentlichen grammatischen Strukturen des klassischen Chinesisch orientiert sich an der Sprache der Zeit der Streitenden Reiche, auf Besonderheiten späterer Texte wird nicht eingegangen.
Morphologie
Das moderne Chinesisch ist eine weitgehend isolierende Sprache, die abgesehen von einigen Affixen wie dem Pluralsuffix 们 men keine Morphologie kennt. Auch das klassische Chinesisch ist im wesentlichen eine isolierende Sprache, jedoch waren in der klassischen Periode einige Wortbildungsprozesse, die sich heute nur noch lexikalisiert finden, wohl teilweise noch produktiv. Die folgende Tabelle bietet Beispiele einiger besonders häufiger morphologischer Prozesse:
Grundwort | Abgeleitetes Wort | ||||||
---|---|---|---|---|---|---|---|
Zeichen | Hochchinesisch | Altchinesisch nach Baxter 1992 (IPA) |
Bedeutung | Zeichen | Hochchinesisch | Altchinesisch nach Baxter 1992 (IPA) |
Bedeutung |
Änderung der Artikulationsart des Anlauts[1] | |||||||
見 | jiàn | * | sehen | 見 | xiàn | * | erscheinen |
囑/屬 | zhǔ | * | zuweisen | 屬 | shǔ | * | zugehörig sein |
Suffix *-s | |||||||
Zur Bildung von Substantiven | |||||||
乘 | chéng | * | fahren | 乘 | shèng | * | Wagen |
度 | duò | * | messen | 度 | dù | * | Maß |
知 | zhī | * | wissen | 知/智 | zhì | * | Weisheit |
難 | nán | * | schwierig | 難 | nàn | * | Schwierigkeit |
行 | xíng | * | gehen | 行 | xíng | * | Verhalten |
Zur Bildung von Verben | |||||||
王 | wáng | * | König | 王 | wàng | * | herrschen |
好 | hǎo | * | gut | 好 | hào | * | lieben |
惡 | è | * | böse | 惡 | wù | * | hassen |
雨 | yǔ | * | Regen | 雨 | yù | * | regnen |
女 | nǚ | * | Frau | 女 | nǜ | * | zur Frau geben |
Infix *-r- | |||||||
行 | háng | * | Reihe | 行 | xíng | * | gehen |
Das Wort ist im klassischen Chinesisch einsilbig, jedoch konnten durch Partial- und Totalredreduplikationen neue, zweisilbige Wörter entstehen, die entsprechend auch mit zwei Schriftzeichen geschrieben werden: 濯濯 zhuózhuó „glänzend“, 螳螂 tángláng „Gottesanbeterin“ zu 螳 táng „Fangschrecke“.
Auch Wortkombinationen, deren Gesamtbedeutung sich aus den Bedeutungen der Komponenten nicht direkt ableiten lässt, bilden mehrsilbige Lexeme: 君子 jūnzǐ „edler Mensch“ aus 君 jūn „Fürst“ und 子 zǐ „Kind“.
Eine besondere Gruppe bilden einsilbige Wörter, die aus einer phonologisch bedingten Fusion zweier, in der Regel „grammatischer“, Wörter entstanden sind: 之於 zhī-yú und 之乎 zhī-hū> 諸 zhū; 也乎 yě-hū > 與 yú / 邪, 耶 yé.
Syntax
Wortarten
Im Chinesischen werden traditionell zwei große Wortklassen unterschieden: 實字 shízì „volle Wörter“ und 虛字 xūzì „leere Wörter“. Shizi sind Träger semantischer Information, wie Substantive und Verben; Xuzi dagegen haben vorwiegend grammatische Funktion.
Die Abgrenzung von Wortarten fällt im klassischen Chinesisch jedoch nicht leicht, da etymologisch verwandte Wörter, die aus syntaktischer Sicht unterschiedlichen Wortklassen angehören, oft weder graphisch noch phonetisch unterschieden werden. So steht 死 sǐ für die Verben „sterben“, „tot sein“ und die Substantive „Tod“ und „Toter“. Dies führte so weit, dass einige Sinologen gar die Ansicht vertraten, dass klassische Chinesisch besäße überhaupt keine Wortarten. Dies wird gewöhnlich abgelehnt, dennoch sind die Unsicherheiten in der Abgliederung von Wortarten in der klassisch-chinesischen Grammatik allgegenwärtig.
Shizi
Substantive
Substantive dienen gewöhnlich als Subjekt oder Objekt eines Satzes; daneben können sie auch das Prädikat eines Satzes bilden (s.u.). In manchen Fällen treten sie auch als Verben mit der Bedeutung „sich verhalten wie…“ o.ä. sowie als Adverbien (hier 人 rén „Mensch“) auf:
- 君君, 臣臣, 父父, 子子 jūn jūn, chén chén, fù fù, zǐ zǐ „Der Fürst verhalte sich wie ein Fürst, der Minister wie ein Minister, der Vater wie ein Vater, der Sohn wie ein Sohn.“
Verben
Die Grundfunktion der Verben ist das Prädikat, als das sie in vielen Fällen schon ohne Zunahme weiterer Wörter oder Partikeln einen vollständigen Satz bilden können. Wie in anderen Sprachen lassen sich auch im klassischen Chinesisch transitive und intransitive Verben unterscheiden. Unter den intransitiven Verben bilden die Zustandsverben, die den Adjektiven anderer Sprachen entsprechen, eine besondere Gruppe. Die Unterscheidung transitiver und intransitiver Verben fällt jedoch vielfach schwer, da sich von instransitiven leicht transitive Verben ableiten lassen:
- 王死 wáng sǐ „der König starb“ (intransitiv) (王 wáng „König“; 死 sǐ „sterben“)
- 王死之 wáng sǐ zhī „der König starb für ihn“ (wörtlich „der König starb ihn“) (transitiv) (之 zhī „ihn“)
- 臣臣 chén chén „der Lehensmann war ein (echter) Lehensmann“ (intransitiv) (臣 chén „Lehensmann; Lehensmann sein“)
- 君臣之 jūn chén zhī „der Fürst machte ihn zum Lehensmann (transitiv) (君 jūn „Fürst“; 之 zhī „ihn“)
Xuzi
Pronomina
Das System der Personalpronomina ist in der ersten und zweiten Person erstaunlich reich, in der dritten Person findet sich dagegen – abgesehen von Einzelfällen – kein Pronomen in Subjektsfunktion (die dann durch Demonstrativpronomina oder einfach ∅ erfüllt wird). Wie bei den Substantiven werden weder Genera noch Numeri unterschieden. Insgesamt finden sich hauptsächlich die folgenden Formen:
Erste Person | 我 wǒ | 吾 wú | 余 yú | 予 yǔ | 朕 zhèn | 卬 áng |
Zweite Person | 爾 ěr | 汝 rǔ | 而 ér | 女 rǔ | 若 ruò | |
Dritte Person | 之 zhī | 其 qí |
Es lassen sich zwar syntaktische Unterschiede in der Verwendung dieser Formen ausmachen; außerhalb der dritten Person, wo qí als Subjekt und – meist – als Attribut sowie zhī als Objekt verwendet wird, sind jedoch auch schlechter kontrollierbare Faktoren wie Dialektvariationen und der Status des Sprechers gegenüber dem Angesprochenen von Bedeutung.
Ein besonderes Phänomen des klassischen Chinesisch ist die Quasipronominalisierung. Hierbei werden Substantive wie Pronomina der ersten oder zweiten Person gebraucht: 臣 chén „Ich“ (eigentlich „Lehensmann“; Lehensmann zum König), 王 wáng „Eure Majestät“ (eigentlich „König“), 子 zǐ „Herr, Sie“ (eigentlich „Herr“; allgemeine höfliche Anrede).
Satz
Verbale Prädikate
Sätze mit verbalem Prädikat sind zwar sehr einfach, können aber durch verschiedene Vorgänge zu recht komplexen Sätzen erweitert werden.
Objekte und Komplemente
Ein Verb kann bis zu zwei Objekte haben: ein direktes und ein indirektes. Beide Objekte könne unmarkiert auftreten:
天 | 與 | 之 | 天下 |
tiān | yǔ | zhī | tiānxià |
Himmel | geben | ihm (Indirektes Objekt) |
Welt (Direktes Objekt) |
„Der Himmel gibt ihm die Welt.“ |
Das direkte Objekt kann auch mit 以 yǐ „mittels“ eingeleitet werden:
堯 | 以 | 天下 | 與 | 舜 |
Yáo | yǐ | tiānxià | yǔ | Shùn |
Yao | mittels | Welt (Direktes Objekt) |
geben | Shun (Indirektes Objekt) |
„Yao gab die Welt Shun.“ |
Das indirekte Objekt kann ebenso wie verschiedene adveriale Bestimmungen auch als Lokativobjekt mit 於 yú eingeleitet werden. Die folgenden Beispiele können die zahlreichen Funktionen des Lokativobjekts nur unvollständig erfassen:
堯 | 讓 | 天下 | 於 | 許由 |
Yáo | ràng | tiānxià | yú | Xǔyóu |
Yao | abgeben | Welt (Direktes Objekt) |
zu | Xuyou (Indirektes Objekt) |
„Yao hinterließ die Welt dem Xuyou.“ |
王 | 立 | 於 | 沼 | 上 |
wáng | lì | yú | zhǎo | shàng |
König | stehen | auf | Teich | Oberseite |
„Der König stand über dem Teich.“ |
得 | 國 | 常 | 於 | 喪 |
dé | guó | cháng | yú | sāng |
bekommen | Land | gewöhnlich | durch | Trauerfall |
„Man erhält das Land gewöhnlich durch einen Trauerfall.“ |
Statt eines nicht belegten *於之 yú zhī „zu/in/bei/… ihm“ findet sich die Form 焉 yān:
僑 | 將 | 厭 | 焉 |
Qiáo | jiāng | yàn | yān |
Qiao | Modalverb des Futurs | zerquetschen | durch ihn |
„Ich, Qiao, werde von ihm (d.h. einem Firstbalken) zerquetscht werden!“ |
Koverben
Eine Spezialität des klassischen wie des modernen Chinesisch sind die sogenannten Koverben, die oft vor dem eigentlichen Prädikat stehen und verschiedene adverbiale Bestimmungen ausdrücken können:
吾 | 以 | 此 | 知 | 勝負 | 矣 |
wú | yǐ | cǐ | zhī | shèng fù | yǐ |
ich | Koverb „mittels“ | dies | wissen | Sieg und Niederlage | satzfinale Aspektpartikel |
„Damit sage ich Sieg und Niederlage voraus.“ |
世子 | 自 | 楚 | 反 |
shìzǐ | zì | Chǔ | fǎn |
Kronprinz | Koverb „von, aus“ | Chu | zurückkehren |
„Der Kronprinz kam aus Chu zurück.“ |
Nominale Prädikate
Eine Besonderheit des klassischen Chinesisch gegenüber dem modernen Chinesisch stellt die Existenz von Sätzen dar, in denen sowohl Subjekt als auch Prädikat Substantive oder äquivalente Ausdrücke (z.B. Konstruktionen mit 者 zhě) sind. Hierbei wird gewöhnlich die Partikel 也 yě an das Satzende gestellt:
文王 | 我 | 師 | 也 |
Wén Wáng | wǒ | shī | yě |
König Wen | ich, mein | Lehrer | Partikel |
„König Wen ist mein Lehrer.“ |
Die Negation erfolgt mit der negativen Kopula 非 fēi, wobei 也 yě unausgedrückt bleiben kann:
子 | 非 | 我 |
zǐ | fēi | wǒ |
du (Quasipronomen) | ich | Partikel |
„Du bist nicht ich.“ |
Attribute und Nominalisiserung
Das Merkmal nominaler Subordination ist das adjektivische 之 zhī und dessen substantivisches Äquivalent 者 zhě. Sie werden zunächst zum Ausdruck genitivischer Verhältnisse zwischen Substantiven benutzt:
王 | 之 | 諸 | 臣 |
Wáng | zhī | zhū | chén |
König | Partikel | die verschiedenen | Minister |
„die verschiedenen Minister des Königs“ |
Nach Personalpronomina wird 之 zhī gewöhnlich ausgelassen: 其妻 qí qī „seine Frau“.
Daneben können diese Formen einen Subjekts- oder Objektsgenitiv ausdrücken und das verbale Prädikat unterordnen.
- 王來 wáng lái „der König kommt“ > 王之來 wáng zhī lái „das Kommen seitens des Königs; die Tatsache, dass der König kommt“ (王 wáng „König“; 來 lái „kommen“)
Umgekehrt kann auch das Prädikat untergeordnet werden, wodurch Konstruktionen entstehen, die in ihrer Funktion Relativsätzen entsprechen:
- 王來 wáng lái „der König kommt“ > 來之王 lái zhī wáng „der kommende König“ (wörtlicher: „der König des Kommens“)
Ebenso:
知 | 者 | 不 | 言 |
zhī | zhě | bù | yán |
wissen | Partikel | nicht | sprechen |
„wer weiß, der spricht nicht“ |
Thematisierung und Fokussierung
Das klassische Chinesisch kann Satzglieder thematisieren und fokussieren, indem es diese an den Satzanfang stellt und fakultativ markiert.
Wird ein Objekt thematisiert, wird es im eigentlichen Satz durch das Objektspronomen 之 zhī vertreten:
聖人 | 吾 | 不 | 得 | 而 | 見 | 之 | 矣 |
shèng rén | wú | bù | dé | ér | jiàn | zhī | yǐ |
weiser Mensch | ich | nicht | bekommen | und | sehen | ihn | Aspektpartikel |
„Ein weiser Mensch, ich habe ihn nicht bekommen und gesehen.“ = „Einen weisen Menschen, den habe ich nicht zu Gesicht bekommen“ |
Auch einige weitere Partikeln können Themen markieren, z.B. 者 zhě oder 則 zé:
Erster Teil | Zweiter Teil | |||||||
君 | 則 | 不 | 寒 | 矣 | 民 | 則 | 寒 | 矣 |
jūn | zé | bù | hán | yǐ | mín | zé | hán | yǐ |
Quasipronomen „Ihr, Du“ | Thematisierungsmarker | nicht | frieren | Aspektpartikel | Volk | Thematisierungsmarker | frieren | Thematisierungsmarker |
„Du frierst nicht, aber das Volk friert.“ |
Aspekt, Modus, Tempus, Diathese
Grammatische Kategorien des Verbs wie Aspekt, Modus, Tempus, Diathese und Aktionsart bleiben im klassischen Chinesisch nicht selten unmarkiert. 王來 wáng lái kann also „der König kommt“, „der König kam“, „der König wird kommen“, „der König möge kommen“ etc. bedeuten. Selbst die Diathese, die Opposition Aktiv vs. Passiv, kann unmarkiert bleiben: 糧食 liáng shí „Proviant wird gegessen“.
Stattdessen finden sich jedoch auch verschiedene Konstruktionen und Partikeln, von denen die wichtigsten im Folgenden vorgestellt werden.
Der Satzaspekt kann im klassischen Chinesisch durch zwei komplementäre, am Satzende stehende, Partikeln ausgedrückt werden. 矣 yǐ drückt wie das moderne 了 le eine Veränderung, 也 yě dagegen einen allgemeinen Zustand aus:
寡人 | 之 | 病 | 病 | 矣 |
guǎrén | zhī | bìng | bìng | yǐ |
Unsere Majestät | Attributpartikel | Leiden | schlimm | Aspektpartikel |
„Das Übel Unserer Majestät ist schlimm(er) geworden.“ |
Der verbale Aspekt kann dagegen durch meherere präverbale Partikeln ausgedrückt werden.
Weitere Tempus-, Aspekt- und Modusunterscheidungen können durch Hilfsverben markiert werden:
Satz 1 | Satz 2 | Satz 3 | |||||
將 | 之 | 楚 | 過 | 宋 | 而 | 見 | 孟子 |
jiāng | zhī | Chǔ | guò | Sòng | ér | jiàn | Mèngzǐ |
Futurmarker | gehen | Chu | vorbeikommen | Song | und | sehen | Mencius |
„Als er (Herzog Wen) im Begriff war, nach Chu zu gehen, kam er an Song vorbei und sah Mencius.“ |
Die häufigste Konstruktion zur Bildung von Passiven benutzt das Verb 見 jiàn „sehen“: 盆成括見殺. Pénchéng Kuò jiàn shā. „Pencheng Kuo wurde getötet.“ (殺 shā „töten“).
Komplexe Sätze
Para- und hypotaktische Beziehungen zwischen Sätzen können im klassischen Chinesisch unmarkiert bleiben:
- 不奪不饜. bù duó bù yàn. „Wenn sie nicht rauben, sind sie nicht gesättigt.“, wörtlich „(sie) rauben nicht – (sie) sind nicht gesättigt“
Daneben bestehen jedoch auch verschiedene Methoden, um solche Beziehungen zu markieren. Eine sehr häufige Möglichkeit besteht in der Nutzung der Konjunktion 而 ér, die neben einer rein koordinierenden Funktion Sätzen auch eine adverbiale Funktion geben kann:
- 坐而言. zuò ér yán. „Er sprach, während er saß.“ (坐 zuò „sitzen“; 言 yán „sprechen“)
Von 而 ér untergeordneter Satz | Hauptsatz | |||
鳴 | 鼓 | 而 | 攻 | 之 |
míng | gǔ | ér | gōng | zhī |
tönen lassen | Trommel | dann | angreifen | ihn |
„Greife ihn unter Trommelschägen an.“ |
Konditionalsätze werden besonders häufig markiert, indem der folgende Hauptsatz mit der Konjunktion 則 zé „dann“ eingeleitet wird:
不 | 仁 | 則 | 民 | 不 | 至 |
bù | rén | zé | mín | bù | zhì |
nicht | menschlich sein | dann | Volk | nicht | herbeikommen |
„Handelt man nicht menschlich, kommt das Volk nicht herbei.“ |
Lexikon
Das Lexikon des klassischen Chinesisch unterscheidet sich wesentlich von dem des modernen Chinesisch. In quantitativer Hinsicht umfasst das klassische Chinesisch der Zeit der Streitenden Reiche nur etwa 2000 bis 3000 Lexeme, wozu noch eine große Anzahl an Personen- und Ortsnamen hinzukommt. Zusätzlich zu dem aus dem Proto-Sinotibetischen ererbten und dem schon in vorklassischer Zeit aus Nachbarsprachen entlehntem Wortmaterial wurden auch in klassischer Zeit Wörter aus nichtchinesischen Sprachen entlehnt. So wurde das Wort 狗 gǒu „Hund“, das erstmals in der klassischen Periode auftauchte und später das alte Wort 犬 quǎn „Hund“ verdrängte, vermutlich aus einer frühen Form der südlich von China beheimateten Hmong-Mien-Sprachen übernommen. Nach der Qin-Dynastie nahm der Wortschatz des klassischen Chinesisch beträchtlich zu, zum einen durch Aufnahme von Lehenwörtern, aber auch durch Übernahme von Wörtern aus der gesprochenen Sprache.
Einzelnachweise
- ↑ Dieser Effekt wird auch auf ein nasales oder glottales Präfix zurückgeführt.
Literatur
Allgemeine Beschreibungen und Grammatiken
- Georg von der Gabelentz: Chinesische Grammatik mit Ausschluss des niederen Stiles und der heutigen Umgangssprache (Leipzig, Weigel 1881; Nachdrucke: Halle a.d. Saale, VEB Niemeyer 1960; Berlin, Deutscher Verlag der Wissenschaften 1953).
- Robert H. Gassmann: Grundstrukturen der antikchinesischen Syntax. Eine erklärende Grammatik (Schweizer Asiatische Studien 26, Bern, Peter Lang 1997); ISBN 3-906757-24-2.
- Edwin G. Pulleyblank: Outline of a Classical Chinese Grammar (Vancouver, University of British Columbia Press 1995); ISBN 0-7748-0505-6 / ISBN 0-7748-0541-2.
Lehrbücher
- Gregory Chiang: Language of the dragon. A classical Chinese reader. Zheng & Zui Co., Boston, MA 1998-. ISBN 0887272983; ISBN 9780887272981
- Robert H. Gassmann, Wolfgang Behr: Antikchinesisch. Teil 1: Eine propädeutische Einführung in fünf Element(ar)gängen; Teil 2: 30 Texte mit Glossaren und Grammatiknotizen; Teil 3: Grammatik des Antikchinesischen (Schweizer Asiatische Studien 18, Bern, Peter Lang 2005); ISBN 3-03910-843-3.
- Ulrich Unger: Einführung in das Klassische Chinesisch. (2 Bände) Otto Harrassowitz, Wiesbaden 1985 ISBN 3-447-02564-6
- Harold Shadick, Ch’iao Chien [Jian Qiao]: A First Course in Literary Chinese (3 Bde.) Ithaca, Cornell University Press 1968; ISBN 0-8014-9837-6, ISBN 0-8014-9838-4, ISBN 0-8014-9839-2. (Wird an mehreren Universitäten im deutschsprachigen Raum als Lehrbuch verwendet.)
Phonologie
- William H. Baxter: A Handbook of Old Chinese Phonology. Trends in Linguistics, Studies and monographs No. 64 Mouton de Gruyter, Berlin / New York 1992. ISBN 3-11-012324-X
- Bernhard Karlgren: Grammata serica recensa. Museum of Far Eastern Antiquities, Stockholm 1957 (von historischem Interesse)
- Edwin G. Pulleyblank: Lexicon of reconstructed pronunciation in early Middle Chinese, late Middle Chinese, and early Mandarin. UBC Press, Vancouver 1991. ISBN 0-7748-0366-5 (modernste Rekonstruktion des Mittelchinesischen)
Wörterbücher
- Seraphin Couvreur: Dictionnaire classique de la langue chinoise Imprimerie de la mission catholique, Ho Kien fu 1911
- Herbert Giles: Chinese-English dictionary Kelly & Walsh, Shanghai 1912
- Robert Henry Mathews: Mathews’ Chinese-English dictionary China Inland Mission, Shanghai 1931; Nachdrucke: Harvard University Press, Cambridge 1943 etc.).
- Instituts Ricci (Hg.): Le Grand Dictionnaire Ricci de la langue chinoise Desclée de Brouwer, Paris 2001. ISBN 2-220-04667-2. Vgl. Le Grand Ricci.
- Werner Rüdenberg, Hans Otto Heinrich Stange: Chinesisch-deutsches Wörterbuch Cram, de Gruyter & Co., Hamburg 1963.
- Ulrich Unger: Glossar des klassischen Chinesisch. Harrassowitz, Wiesbaden 1989, ISBN 3-447-02905-6 (beschränkt sich im Gegensatz zu den anderen hier genannten Wörterbüchern auf die Zeit der Streitenden Reiche)