Oneg Schabbat

Eine der Milchkannen, in denen das Ringelblum-Archiv versteckt wurde.

Oneg Schabbat (hebräisch עונג שבת – Freude am Sabbat, weitere Schreibweisen: Oneg Shabbat oder Oyneg Shab(b)es) war ein Tarnname für das Geheime Archiv des Warschauer Gettos oder Ringelblum-Archiv, das einzige bekannte Untergrundarchiv im Warschauer Ghetto. Es wurde 1940 während der deutschen Besatzung Polens von Emanuel Ringelblum aufgebaut und dokumentiert das Leben und Sterben der Juden im Ghetto während der Schoah. Heute gehört es zum Weltdokumentenerbe der UNESCO.[1]

Geschichte

Ziele

Ursprüngliches Ziel des Untergrundarchivs war es, das jüdische Leben in Warschau angesichts des drohenden nationalsozialistischen Völkermords an den Juden für die Nachwelt zu dokumentieren, durch eine damals neuartige Kombination historischer und soziologischer Methoden.[2] Zugleich wollte das Archiv den Verfolgten eine Stimme geben, die über die Grenzen des Ghettos hinaus gehört wird.[3] Mit zunehmender Brutalität der Besatzer wandelte sich die Bestimmung des Archivs: es dokumentierte nun die systematische Vernichtung der jüdischen Bevölkerung, um Beweise über die Verbrechen der Nationalsozialisten zu hinterlassen und die Weltöffentlichkeit zu informieren.[4][5]

Als äußere Tarnung fungierte die Wohlfahrtsorganisation Jüdische Soziale Selbsthilfe (ZSS).[3] Ringelblum hatte zu Beginn Wert darauf gelegt, ein möglichst umfassendes und objektives Bild des jüdischen Lebens im Ghetto abzubilden, daher stammten die Mitarbeitenden aus unterschiedlichen Kreisen der jüdischen Gesellschaft.[6] Der Archivkreis umfasste 60-80 Historiker, Pädagogen, Schriftsteller, Rabbiner, aber auch Handwerker. Ihre Arbeit geschah anonym, bislang sind nur 36 Personen namentlich bekannt.[7] Auch Frauen waren dabei wie Rachel Auerbach, Gustawa Jarecka, Henryka Łazowertówna, Gela Seksztajn, Cecylia Słapakowa und andere.[8] Mindestens zwei Angestellte des von den Nationalsozialisten kontrollierten Judenrats, Marcel Reich-Ranicki und Gustawa Jarecka, waren für das Untergrundarchiv tätig. Sie kopierten heimlich den Briefwechsel zwischen Besatzern und Judenrat, ebenso Anordnungen für Deportationen oder Strafaktionen, und schmuggelten die Dokumente ins Untergrundarchiv.[9]

Materialien

Gesammelt wurde alle Materialien, die das Leben der im Ghetto eingeschlossenen Menschen für die Nachwelt dokumentieren konnten wie Zeitschriften, Plakate, Flugblätter, künstlerische und wissenschaftliche Werke, auch auch private Texte, Tagebücher, Schulaufsätze, Gedichte und Familienfotos.[4] Zusätzlich führte man Interviews mit Menschen, die nicht schreiben konnten. Dazu kamen amtliche Verfügungen zur Zwangsarbeit, Berichte über Aktionen des jüdischen Widerstands, auch Dokumente über Korruption oder über die Kollaboration einzelner Ghettobewohner mit den Besatzern.[10] Zusätzlich wurden Berichte verfasst, als Hilfeschrei an den aktiven polnischen Untergrund, an die polnische Exilregierung in London sowie an jüdische Organisationen im Ausland gerichtet, doch die erhoffte Unterstützung blieb aus.[1] In einer der letzten Aufzeichnungen schrieb Gustawa Jarecka 1942:

„Es ist zur Zeit kein Problem, das sachliche Material zusammenzutragen. Trotz aller Anstrengungen ist es jedoch unmöglich, ihm einen objektiven Charakter zu geben! Es fällt schwer, es ohne Tränen und Klagen zu ordnen. Leichter war es, den vergangenen Albtraum stumpf zu durchleben, als ihn heute zu erinnern. [...] Diese Aufzeichnungen entstehen aus dem instinktiven Drang, eine Spur zu hinterlassen, aus der Verzweiflung, die einen zuweilen schreien lassen will, aus dem Willen, sein Leben zu rechtfertigen, das in tödlicher Unsicherheit weiter andauert. [...] Wir sammeln Schuldbeweise, die für uns selbst nutzlos sind. Diese Beweise sollten wie ein Stein ins Räderwerk der Geschichte fallen, um es zum Stillstand zu bringen. In diesem Stein steckt die ganze Last unserer Erfahrung, die den tiefsten Punkt menschlicher Grausamkeit erlebt hat.“[11]

verbeulte Metallboxen und Milchkannen
Metallboxen und Milchkannen als Versteck für Oneg Shabbat
handschriftliche Namenslisten auf vergilbtem Papier
„Was wir nicht in die Welt hinausschreien konnten“: Ausstellung 2017 im Jüdischen Historischen Institut in Warschau

Versteck und Wiederentdeckung

Am 22. Juli 1942 begann die Große Aktion genannte Deportation der in Warschau gefangenen Juden in das NS-Vernichtungslager Treblinka. Anfang August sicherten die Mitarbeiter des Untergrundarchivs ihre wertvollen Bestände: Zehn wasserdichte Metallkisten für Dokumente wurden angefertigt und im Keller einer ehemaligen Schule im Ghetto eingemauert. David Graber[12], ein mithelfender 19-jähriger Schüler, schrieb noch rasch seinen Lebenslauf und sein Vermächtnis auf, bevor er kurz danach starb:

„Möge dieser Schatz in gute Hände fallen, möge er bis in bessere Zeiten überdauern, möge er die Welt alarmieren und auf das aufmerksam machen, was geschehen ist ... im zwanzigsten Jahrhundert. [...] Wir können jetzt in Frieden sterben. Wir haben unseren Auftrag erfüllt ... Möge die Geschichte für uns zeugen.“[13]

Nach dem Krieg begannen drei überlebende Mitarbeiter Ringelblums mit der Suche nach dem verborgenen Untergrund-Archiv. Im September 1946 wurden zehn Blechkisten mit 1208 Archivalien tief unter den Trümmern des Hauses wiedergefunden. Im Dezember 1950 wurden bei einer weiteren Suchaktion zwei große Milchkannen mit 484 Archivalien geborgen. Von der dritten Abteilung des Archivs fanden sich an anderer Stelle nur eine Anzahl halbzerstörter Blätter. Der vierte und letzte Teil mit Ringelblums letzten Arbeiten aus den Jahren 1943 und 1944 war noch während des Kriegs bei polnischen Freunden versteckt worden und wurde später an das Museum der Ghettokämpfer im Kibbuz Lochamej haGeta’ot (Israel) abgegeben.

Nur wenige aus der Oneg-Shabbat-Gruppe überlebten die Zerstörung des Warschauer Ghettos wie Rachel Auerbach, Bluma und Hersh Wasser.[14]

Emanuel Ringelblum Archives

Die Sammlung des Geheimen Archivs / Oneg Shabbat wird im Jüdischen Historischen Institut in Warschau aufbewahrt. Sie umfasst 1.680 Archivposten mit etwa 25.000 Seiten. Ihre polnische Bezeichnung dort lautet: „Konspiracyjne Archiwum Getta Warszawskiego. Archiwum Emanuela Ringelbluma“. 1999 wurde das Archiv in das Weltdokumentenerbe der UNESCO unter der engl. Bezeichnung Warsaw Ghetto Archives (Emanuel Ringelblum Archives) aufgenommen.[15]

Eine umfassende Edition der Dokumente des Ringelblum-Archivs ist als Buch von Samuel Kassow: Ringelblums Vermächtnis: Das geheime Archiv des Warschauer Ghettos erschienen.[16]

Ausstellung und Film

Literatur

  • Emanuel Ringelblum: Ghetto Warschau. Tagebücher aus dem Chaos. Vorw. Arieh Tartakower. Seewald, Degerloch 1967.
  • Samuel D. Kassow: Ringelblums Vermächtnis: Das geheime Archiv des Warschauer Ghettos. Karl Heinz Siber (Übersetzer). Rowohlt, Reinbek 2010, ISBN 978-3-498-03547-1 (Hier Schreibweise: „Oyneg Shabes“).[19]
  • Joseph Kermish (Hrsg.): To Live with Honor and Die with Honor. Selected Documents from the Warsaw Ghetto Underground Archives Oneg Shabbath. Yad Vashem, Jerusalem 1986.
  • Ruta Sakowska: Die zweite Etappe ist der Tod. NS-Ausrottungspolitik gegen die polnischen Juden, gesehen mit den Augen der Opfer. Ein historischer Essay und ausgewählte Dokumente aus dem Ringelblum-Archiv 1941–1943. Hentrich, Berlin 1993, ISBN 3-89468-077-6.
    • dies.: Menschen im Ghetto. Die jüdische Bevölkerung im besetzten Warschau 1939–1943. Fibre, Osnabrück 1999, ISBN 3-929759-37-3.
    • dies.: Archiwum Ringelbluma. Getto warszawskie lipiec 1942 – styczeń 1943, Warszawa 1980.
    • dies. und Jüdisches Historisches Institut (Warschau) Hg.: Oneg Schabbat. Das Untergrundarchiv des Warschauer Ghettos. Ausstellungskatalog. Text in Deutsch; abgebildete Dokumente auch in Polnisch und Jiddisch. Mit einem Namensverzeichnis. Verlag Arbeit und Leben NRW, Düsseldorf 2003, ISBN 83-85888-72-1.
  • Robert Moses Shapiro & Tadeusz Epsztein: The Warsaw Ghetto Oyneg Shabes – Ringelblum Archive. Catalog and Guide. Indiana University Press 2009. ISBN 978-0-253-35327-6. (Inhaltsverzeichnis online)
  • Yad Vashem (Hrsg.): A Commemorative Symposium in Honour of Dr. Emanuel Ringelblum and His „Oneg Shabbat“ Underground Archives. Jerusalem 1983.
  • Samuel Kassow: Oyneg Shabbes. In: Dan Diner (Hrsg.): Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur (EJGK). Band 4: Ly–Po. Metzler, Stuttgart/Weimar 2013, ISBN 978-3-476-02504-3, S. 464–468.

Einzelnachweise

  1. a b c Ulla-Britta Vollhardt; Mirjam Zadoff (Hrsg.): Wichtiger als unser Leben. Das Untergrundarchiv des Warschauer Ghettos. Wallstein-Verlag für das NS-Dokumentationszentrum München, 2023, ISBN 978-3-8353-5492-0.
  2. Ulla-Britta Vollhardt; Mirjam Zadoff: Wichtiger als unser Leben. 2023, S. 28.
  3. a b Ulla-Britta Vollhardt; Mirjam Zadoff: Wichtiger als unser Leben. S. 28.
  4. a b NS-Dokumentation: Emanuel Ringelblum und sein Widerstandsarchiv. 10. November 2023, abgerufen am 7. Februar 2025 (deutsch).
  5. Wir hinterlegen jetzt das Beweismaterial für die Verbrechen (PDF). In: Convivio mundi. Abgerufen am 7. Februar 2025.
  6. Sonja Ernst: Warschauer Ghetto: Das Ringelblum-Archiv. In: Bundeszentrale für Politische Bildung. 8. Mai 2013, abgerufen am 6. Februar 2025.
  7. NS-Dokumentationszentrum München: Ringelblum-Archiv. Abgerufen am 6. Februar 2025.
  8. Will of Survival, Obligation to Witness… Rachela Auerbach and the Women of Oneg Shabbath in the Warsaw Ghetto - Instytut Pileckiego. In: Jewish Historical Institute (JHI). Abgerufen am 6. Februar 2025.
  9. Reich-Ranicki: Mein Leben, S. 215f.
  10. Das Ringelblum-Archiv. In: Projekt 'Die Zeugen der Zeugen'. Abgerufen am 6. Februar 2025.
  11. Ulla-Britta Vollhardt; Mirjam Zadoff: Wichtiger als unser Leben. 2023, S. 46.
  12. Convivio mundi eV: Wichtiger als unser Leben. Abgerufen am 30. Dezember 2024.
  13. Vollhardt; Zadoff: Wichtiger als unser Leben ... 2023, S. 22.
  14. Samuel Kassow: Ringelblums Vermächtnis: Das geheime Archiv des Warschauer Ghettos. Karl Heinz Siber (Übersetzer). Rowohlt, Reinbek 2010, ISBN 978-3-498-03547-1.
  15. Jüdisches Historisches Institut. In: Stadtführer Warschau. Abgerufen am 28. Dezember 2024.
  16. Laura Jockusch: "Collect and record!" Jewish Holocaust documentation in early postwar Europe. Oxford University Press, 2012. In der englischen WIKIPEDIA gibt es einen ausführlichen Artikel über Rokhel Auerbakh (Rachel Auerbach). Zu weiteren Biographien siehe: Biographien der Oneg-Shabbat-Gruppe.
  17. Informationsseite des Senders arte zur Dokumentation. Der Film enthält Bild- und Film-Archivmaterial über und aus dem deutschen Judenlager in Warschau (meist so genanntes Warschauer Ghetto) und nachgestellte Spielszenen.
  18. Chris Schinke: Ringelblum-Archiv aus Warschauer Ghetto: Vermächtnis in Milchkannen. In: Die Tageszeitung: taz. 5. Juli 2023, ISSN 0931-9085 (taz.de [abgerufen am 14. Juli 2023]).
  19. auch als Amazon Kindle lesbar. Auch in Englisch und Französisch verfügbar