Surrogatpartnerschaft
Als Surrogatpartner werden Sexualbegleiter im therapeutischen Kontext bezeichnet, die sexuelle Handlungen vornehmen.
Begrifflichkeit
Der Begriff Surrogatpartnerschaft kommt von surrogatum = der Ersatz, Partizip Perfekt Passiv des lateinischen Verbes surrogare = sub-rogare = jemanden anstelle eines anderen auswÀhlen. Man unterscheidet nach zwei Arten: einerseits nach dem Grad der Assistenz in aktive und passive, andererseits nach dem Ziel in sexualtherapeutische oder auf sexuelle Teilhabe von Behinderten ausgerichtete.
Abgrenzung zur Prostitution
In Abwandlung der klassischen Prostitution sollen sie dem Klienten bei der Vornahme sexueller Handlungen vor allem seelische und emotionale Zuwendung bieten. Der Geschlechts- oder Oralverkehr wird hierbei nicht notwendigerweise praktiziert. Der therapeutische Kontext macht die Anleitung und Supervision durch einen Psychotherapeuten zwingend, der selbst an keinen erotischen Kontakten teilnimmt.
Verbreitung
Ăber die Verbreitung dieser Praktiken im deutschsprachigen Raum gibt es aufgrund der problematischen Abgrenzung zum Verbot in AbhĂ€ngigkeitsverhĂ€ltnissen keine verlĂ€sslichen Zahlen.
Sexualtherapie â therapeutische Surrogatpartnerschaft
Ursprung und Entwicklung der Surrogattherapie
Die therapeutische Sexualassistenz (Sexual surrogate) als spezifische Form der Sexualtherapie wurde in den USA von Masters und Johnson eingefĂŒhrt. Sie stellt dort heute eine seltene und atypische Technik dar und stöĂt auf ethische und rechtliche Bedenken.[1]
In Deutschland wurde in den 1960er und 1970er Jahren eine Zeitlang Surrogattherapie durch den MĂŒnchner Sexualwissenschaftler Götz Kockott durchgefĂŒhrt. Im Zuge der zunehmenden Angst vor AIDS hat sich diese Therapieform jedoch nicht etabliert und wird nun in Europa wieder bekannter.
Der Therapeut als Surrogat
Aufgrund von ethischen, gesetzlichen und standesrechtlichen Bestimmungen[2] handeln approbierte Psychotherapeuten in keinem Fall selbst als Ersatzpartner. Spezialisierte Prostituierte, die sich zum Sexualtherapeuten weiterbilden und z. B. eine Zulassung zur Erlaubnis zur berufsmĂ€Ăigen AusĂŒbung der Heilkunde ohne Bestallung (Heilpraktiker) erwerben, können in ihrer therapeutischen Arbeit ohne EinschrĂ€nkung und mit ĂŒbereinstimmender WillenserklĂ€rung zwischen Patient und Behandler selbst als Surrogat tĂ€tig werden.
Die Rolle des Hilfstherapeuten
Die Sexualtherapeuten Masters und Johnson setzen, anstatt analytisch vorzugehen, den Partner eines Klienten ohne manifeste Symptombildung als Hilfstherapeuten ein. Die Vertreter einer systemischen Sicht verstehen hingegen die sexuelle Problematik des Klienten eher als eine Störung, die sich in der Beziehung des jeweiligen Paares selbst manifestiert, auch wenn nur bei einem Partner die manifeste Symptombildung vorliegt.
Die psychotherapeutische Arbeit ist demnach hier ĂŒblicherweise erfahrungsorientiert, so dass das Paar angeleitet wird, zu Hause den körperlich-sexuellen Umgang mit dem Partner, aber auch mit sich selbst nach bestimmten Regeln zu gestalten. Vor diesem Hintergrund haben einige Sexualtherapeuten und fachlich qualifizierte Prostituierte begonnen, die Rolle des Ersatzpartners fĂŒr therapeutische Setting fachĂŒbergreifend zu instrumentalisieren.
Sexualtherapeutische AnsĂ€tze, die meist integrierend Methoden der Verhaltenstherapie, Kognitionstherapie und Psychoanalyse beinhalten, haben in den USA allerdings derzeit einen wesentlich höheren Stellenwert als in Deutschland. Ausgehend von der Ăberzeugung, dass die Therapie von Sexualproblemen nur dann erfolgreich sein könne, wenn sowohl erektile Dysfunktion als auch die Partnerschaft selbst behandelt wĂŒrden, haben sich dort inzwischen weitreichende Therapieprogramme entwickelt.
Voraussetzungen
Eine therapeutische Surrogatpartnerschaft wird zum Beispiel angewandt, wenn ein somatisch (körperlich) gesunder Klient einen gestörten Zugang zur eigenen oder zur gemeinsamen SexualitĂ€t mit dem Partner aufzeigt. Vor allem geht es dabei um die erektile Dysfunktion (Potenzstörungen) aufgrund von BeeintrĂ€chtigungen der SexualitĂ€t durch Konflikte im Alltag und verzögerte oder vorzeitige Orgasmen des Mannes (Ejaculatio praecox). Erektionsstörungen oder ausbleibender Orgasmus (Anorgasmie), der Verlust oder die generelle Verminderung der sexuellen Lust (Appetenzstörung und FrigiditĂ€t) können erfolgreicher therapiert werden, wenn ein Sexualpartner zur VerfĂŒgung steht, um die besprochenen VerĂ€nderungen umzusetzen. Fehlt dieser, setzen manche Therapeuten einen Surrogatpartner ein. Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn die Störung ĂŒberhaupt erst die Aufnahme einer tragfĂ€higen intimen Beziehung verhindert. Zeigt die therapeutische Diskriminierung ein solches Problem auf, wird gegebenenfalls ein Surrogatpartner eingesetzt. Sexualstörungen können klassisch therapeutisch nur bis zu einem gewissen Grad erfasst werden. Tiefenpsychologische Verfahren richten sich nach der eigentlichen Ursache der beeintrĂ€chtigten SexualitĂ€t (oft Missbrauchserfahrungen, frĂŒhkindliche Störung, traumainduzierte Abwehrmechanismen etc.). Durch Lösung des Vorkonflikts und Entwicklung von BeziehungsfĂ€higkeit kann der Patient im Lauf der Zeit neue oder bestehende Liebesbeziehungen entwickeln bzw. vertiefen und eine beziehungszentrierte SexualitĂ€t aufbauen. HierfĂŒr wĂ€re eine Surrogatpartnerschaft nicht nur unnötig, sondern klar kontraindiziert.
Da die psychischen Ursachen atraumatischer sexueller Störungen weitgehend geschlechtsneutral im jeweiligen RollenverstĂ€ndnis und gesellschaftlichen SelbstwertgefĂŒhl begrĂŒndet liegen, stellen emotionale Zuwendung und erwartungsfreie Begegnung fĂŒr Klienten beiderlei Geschlechts die therapeutische Grundlage zur Surrogattherapie dar. In dieser Stimmung weitgehender Vertrauensbildung kann dem Klienten die eigene SexualitĂ€t eher gelingen, als mĂŒsste er, wie in einer normalen sexuellen Beziehung, gleichzeitig noch beziehungsrelevante Erwartungen, Erwartungen an die Fitness, Gedanken zur EmpfĂ€ngnisverhĂŒtung oder zum Wunschkind, in Bezug auf die Sozialisation des Geschlechtspartners oder die eigene Rolle als Partner, ErnĂ€hrer oder Versorger erfĂŒllen. Ebenso kann ein mĂ€nnlicher Surrogatpartner einer entsprechenden Anorgasmie bei weiblichen Klienten begegnen. Dadurch, dass soziologische und materielle Hintergedanken auf Seiten des Sexualpartners wegfallen und dass bestimmte Erwartungsvermutungen an einen perfekten Körper oder eine bestimmte Ausdauer wĂ€hrend des Aktes erst gar nicht gestellt werden und der Klient nicht zuletzt weiĂ, dass sein Surrogatpartner, anders als eine regulĂ€re Prostituierte, sich auch menschlich auf ihn einlĂ€sst, kann dem eigentlichen Problem der gestörten SexualitĂ€t besser begegnet werden.
Eine Sexualtherapie, bei der einem Klienten dadurch die Angst vorm Geschlechtsverkehr genommen wird, dass ein âSurrogatâ eingesetzt wird, ersetzt den eigentlichen Wunschpartner körperlich durch eine Vertretung. Eine solche Therapie kann nur wirken, wenn das therapeutische Setting zu Beginn der Behandlung beide Seiten klar in ihre temporĂ€re emotionale Rolle als Sexualpartner verortet. Der Surrogattherapie wird vor allem aus Unkenntnis ĂŒber diese gesprĂ€chstherapeutische Vor- und Nachbereitung vorgeworfen, die Prostitution im klassischen Sinn zu fördern. TatsĂ€chlich stehen der Geschlechtsakt selbst und Sexualpraktiken an sich nicht im Mittelpunkt der Arbeit eines therapeutischen Surrogatpartners. Vielmehr erfĂŒllt er die Rolle eines einfĂŒhlsamen Begleiters, der erst einmal die eigentliche Bereitschaft zur eigenen SexualitĂ€t beim Klienten aufbaut und ggf. vorhandene affektive Störungen supportiv löst.
Bei traumatisch bedingten Sexualstörungen ist regelmĂ€Ăig eine entsprechend lĂ€ngere gesprĂ€chstherapeutische Vorphase angezeigt. Der Surrogatpartner spricht mit dem Klienten ausfĂŒhrlich ĂŒber seine Empfindungen und arbeitet gegebenenfalls in Bezug auf die Trauma-Behandlung mit einem Psychotherapeuten zusammen. Idealerweise ist er selbst darin geschult, z. B. mit nondirektiver GesprĂ€chsfĂŒhrung zu arbeiten. Nach einer Zusammenkunft mit einem Surrogatpartner folgen bei Belastungspatienten je nach angezeigter Diagnose eine gesprĂ€chstherapeutische Einheit und die Aufforderung, auch selbst neue Sexualpartner zu finden.
Frequenz und Dauer der Begegnungen mit einem Surrogatpartner schwanken stark. Eine einmalige Behandlung wird hierbei ebenso die Ausnahme darstellen wie eine vergleichsweise langjĂ€hrige Therapie, wie im Bereich der Psychoanalyse ĂŒblich. Da in Europa nur wissenschaftlich anerkannte Verfahren auf Kosten der Krankenkasse durchgefĂŒhrt werden können, werden Surrogartpartner im Rahmen einer Psychotherapie hier allenfalls als privat finanzierte Co-Therapeuten eingesetzt.
Ausbildung
Die TÀtigkeit eines Surrogatpartners wird nicht staatlich ausgebildet oder von einem TrÀger der berufsbildenden Institutionen vermittelt. Ein Verband oder eine Berufsvertretung von Sexualassistenzen, Sexualbegleiterinnen und Surrogatpartnern mit der Möglichkeit eines fachlichen Austausches oder einer QualitÀtssicherung existiert in Europa nicht.
Sexualassistenz an Behinderten
Die Sexualassistenz oder Sexualbegleitung versucht, behinderten Menschen den Zugang zu SexualitĂ€t, wie sie von nichtbehinderten Menschen praktiziert wird, zu ermöglichen. Sie unterscheidet sich gegenĂŒber der therapeutischen Surrogatpartnerschaft dadurch, dass die Sexualassistenz keine emotionalen Störungen mit Krankheitswert behandelt und auch in der Regel nicht therapeutisch geschult ist.
Ein Sexualbegleiter versucht denen, die dazu selbst nicht oder nicht mehr in der Lage sind, ein erotisch-sinnliches Erlebnis zu vermitteln. Dabei soll es um NÀhe und Geborgenheit, aber auch um Sex und sexuelle Befriedigung gehen. Sexualbegleitung möchte Behinderten helfen, erste sexuelle Erfahrungen zu machen.
Entwicklung der Sexualassistenz
In der Schweiz hatte die Behindertenorganisation Pro Infirmis 2003 den ersten Ausbildungsgang geplant. Harter Widerstand in der Ăffentlichkeit, verbunden mit SpendenrĂŒckgang, fĂŒhrte zur GrĂŒndung der Fachstelle Behinderung und SexualitĂ€t, die 2004 die Ausbildung unter der neuen Bezeichnung âSexualassistentInnenâ aufnahm. In der Schweiz gibt es derzeit eine Ăffnung des Ausbildungsangebotes in Richtung Geschlechtsverkehr und auch fĂŒr homosexuelle Klienten.
Im Bereich der Behinderten-Assistenz hat Nina de Vries zusammen mit Lothar Sandfort Mitte der 1990er Jahre erstmals Sexualbegleitung angeboten. Pro Familia fĂŒhrt dazu aus: âEs gibt erkennbare Professionalisierungsbestrebungen und Stimmen, die nur diejenigen als SexualbegleiterInnen bezeichnen wollen, die â einem geschĂŒtzten Berufsbild vergleichbar â ĂŒber eine spezielle Ausbildung und fachliche Qualifikation verfĂŒgen.â[3]
Aktive und passive Sexualassistenz
Passive Sexualassistenz beinhaltet das Besorgen von sexuellen Artikeln (beispielsweise Kondom, Vibrator, Sexfilm), Sexualberatung, Herstellen von Kontakten (Partner, Sexualbegleiter, Prostituierte), vorbereitende TĂ€tigkeiten (Transport zu einer Prostituierten, Entkleiden eines Paares fĂŒr den sexuellen Kontakt, Schutz vor Fremdbestimmung und struktureller Gewalt). Sie kann Handlungen wie Streicheln, Umarmen, Halten und Liebkosen beinhalten, was eine strenge Trennung zur aktiven Sexualassistenz schwierig macht.
Aktive Sexualassistenz beinhaltet sexuelle Massage, Handbefriedigung und Geschlechtsverkehr, also bei Entgeltlichkeit Prostitution. Es soll insbesondere um Hilfe zur Selbsthilfe, also um Selbstbefriedigung, Sexual- und Kontaktberatung gehen.[4]
Kritik
Der Sexualbegleitung, Sexualassistenz oder Surrogatpartnerschaft wird nicht nur von konservativen Kreisen hĂ€ufig vorgeworfen, sie seien nur Euphemismen fĂŒr eine Form von Prostitution. FĂŒr Kirchen sowie konservative Kreise stellt solche Prostitution ein Tabu dar. Krankenkassen sowie viele Psychologen stehen der Sexualbegleitung in hohem MaĂe kritisch gegenĂŒber. Sie vermissen bei der sexualtherapeutischen Surrogatpartnerschaft gesicherte Nachweise der Wirksamkeit.[5]
In der Kritik steht diese Praktik fĂŒr Behinderte unter anderem, da die Freiwilligkeit auf Seiten dieser Klienten nicht immer einfach festzustellen und so Missbrauch möglich ist. Die Praxis unter nicht kranken Menschen im Rahmen der erbetenen Hilfe von selbstbestimmten Personen, die nicht psychisch oder körperlich vom Surrogatpartner abhĂ€ngig sind, wird vom deutschen Strafrecht nicht erfasst. Zu beachten ist weiterhin, dass auf die möglichen GrĂŒnde eines sexuellen RĂŒckzugs durch den Patienten nicht eingegangen wird. Wohl die meisten dieser Ursachen (seien es Schwierigkeiten in der Rollenfindung oder Traumaerfahrungen) stellen eindeutige Kontraindikationen fĂŒr eine therapeutische Surrogatpartnerschaft dar.
Die therapeutische Grundregel der Abstinenz stehe einer Surrogattherapie diametral entgegen. Die weit ĂŒberwiegende Mehrheit der Sexualtherapeuten hĂ€lt die Gefahr, sich nicht genĂŒgend dissoziieren zu können, fĂŒr ein unĂŒberwindliches Hindernis dieser Therapie. Sexualassistenz wird daher sexualethisch abgelehnt. Zur Umgehung der Strafbarkeit sowie dieser Ablehnung sind zum Teil enge Partnerschaften zwischen Therapeuten, die keinen sexuellen Kontakt mit Ratsuchenden eingehen, und Surrogatpartnern entstanden.[6] Aufgrund der Strafandrohung gibt es kaum Entgegenkommen bei der praktischen DurchfĂŒhrung in Pflegeeinrichtungen. Die meisten Pflegedienstleitungen treffen weder rĂ€umliche noch inhaltliche Vorkehrungen und so werden Sexualassistenzen fast ausschlieĂlich im privaten Rahmen vorgenommen.
Im Jahr 2010 kritisierten Diakoniemitarbeiter mit UnterstĂŒtzung von Gemeindehilfsbund und âKirchliche Sammlung um Bibel und Bekenntnis in Bayernâ (KSBB) in einem offenen Brief an PrĂ€ses Nikolaus Schneider, den Vorsitzenden des Rates der EKD, die Propagierung der Surrogatpartnerschaft in der Orientierung, einer Fachzeitschrift im Arbeitsfeld Behindertenhilfe. Es wĂŒrde in einer seit 2003 andauernden Kampagne, besonders in den Heften 02/2003 und 02/2009 âProstitution [als] âheilige Handlung im Auftrag der Göttinââ und als ââchristlicherâ Berufâ propagiert. Solche Praktiken seien unvereinbar mit evangelischer Sexualethik und strafbar nach § 174 und § 179[7] StGB.[8]
Strafbarkeit und rechtliche Situation in Deutschland
Aktive Surrogatpartnerschaft ist in Deutschland fĂŒr Ărzte und psychologische Psychotherapeuten bzw. Pfleger strafbar, passive teilweise erlaubt, aber ethisch umstritten.
Das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung ist im Art. 2 GG garantiert. Dieses beinhaltet auch das Recht auf Schutz vor Missbrauch und das Recht, sich jeden Sexualpartner zu wĂ€hlen, der helfen kann, eigene Defizite oder ungewollte eigene Keuschheit aufgrund von fehlenden Möglichkeiten zur Entwicklung einer gesunden SexualitĂ€t zu ĂŒberwinden. Ărztlichen Therapeuten ist es verboten, selbst sexuelle Kontakte mit AbhĂ€ngigen einzugehen, dazu gehören alle Patienten, Klienten, Ratsuchende in ihrer Behandlung. Sie arbeiten in der Surrogattherapie deshalb mit Sexualbegleitern. Das Pflegepersonal darf den von ihm abhĂ€ngigen Behinderten nicht sexuell assistieren. Da Sexuelle Assistenz fĂŒr das Personal in vielen Hausordnungen mit Hinweis auf sexuellen Missbrauch oder die einschlĂ€gigen Strafvorschriften ausgeschlossen ist, kommt der Kontakt ĂŒber Angehörige oder Pflegepersonal zustande.
Ein weiteres Problem ist strukturelle Gewalt, also sogar darĂŒber hinausgehende unerlaubte Begrenzung von Selbstbestimmung, beispielsweise durch Hausordnungen in Pflegeeinrichtungen (Besuchsverbot fĂŒr Prostituierte), durch soziale Kontrolle (stĂ€ndige Aufsicht durch Pflegepersonal) oder mangelnde IntimitĂ€t durch fehlende Einzelzimmer oder AusweichrĂ€ume (Liebeszimmer). Einerseits soll das Pflegepersonal den Klienten ein lebenswertes Leben ermöglichen, andererseits besteht die Gefahr, dass das Pflegepersonal missbrĂ€uchlich oder in guter Absicht Grenzen ĂŒberschreitet.
AuĂerhalb von Pflegeeinrichtungen, im privaten Rahmen und im Rahmen von nicht Ă€rztlicher Lebenshilfe im sexuellen Rahmen einer Beratung durch Heilpraktiker oder Heiler stellt die Vornahme freiwilliger, selbstbestimmter sexueller Handlungen durch andere als den eigenen oder einen festen Sexualpartner aufgrund des Rechtes auf sexuelle Selbstbestimmung kein juristisches Problem dar. In AbhĂ€ngigkeitsverhĂ€ltnissen ist aktive Sexualassistenz nach §§ 174 ff. StGB verboten.
Passive Sexualassistenz ist jedoch immer möglich, solange sie nicht an AbhĂ€ngigen praktiziert wird, da auch das gewerbliche Anbieten sexueller Dienstleistungen in Deutschland nicht mehr strafbar ist. Das Prostitutionsgesetz (Gesetz zur Regelung der RechtsverhĂ€ltnisse der Prostituierten â ProstG) regelt die rechtliche Stellung von Prostitution als Dienstleistung seit dem Jahr 2001. Gleichzeitig wurden das Strafgesetzbuch in § 180a (Ausbeutung von Prostituierten) und § 181a (ZuhĂ€lterei) dahingehend geĂ€ndert, dass das Schaffen eines angemessenen Arbeitsumfeldes nicht mehr strafbar ist, solange nicht eine Ausbeutung von Prostituierten stattfindet. FĂŒr Menschen, die ansonsten keine Betreuungsbeziehung mit dem Betroffenen haben, gilt die Strafbarkeit nach §§ 174, 174a und 174c StGB daher nicht. Deshalb werden Sexualassistenten eingesetzt. Oft praktiziert Pflegepersonal Sexualassistenz heimlich oder verschleiert (Intimwaschung, Baden, Eincremen).
Pro Familia kam zu dem Schluss: âEs findet sich keine einfachgesetzliche Rechtsgrundlage, aus der sich eine staatliche Pflicht ableiten lieĂe, AnbieterInnen von entgeltlicher Sexualassistenz und Sexualbegleitung fĂŒr Menschen mit Behinderungen institutionell zu fördern.â[9] Gleichwohl wird inzwischen allgemein von einer eben nicht einfachgesetzlichen, sondern verfassungsrechtlichen Verpflichtung ausgegangen und das zwangsweise Vorenthalten von ggf. bezahlten Sexualkontakten als strukturelle Gewalt betrachtet.
Bearbeitung des Themas in Belletristik und Film
- YazgĂŒlĂŒ Aldoga: Kiralik Adam. Alfa Yainlari Verlag, Istanbul 2009. Deutsch: Die Begleitung. binoki, Berlin 2012.
- Ben Lewin: The Sessions. Deutsch: The Sessions â Wenn Worte berĂŒhren 2012.
- Kirby Dick: Private Practices: The Story of a Sex Surrogate. 1986.
Literatur
BĂŒcher
- Mirjam Mirwald: Sexualbegleitung fĂŒr Menschen mit Lernschwierigkeiten. Diskursanalyse und Dokumentarfilm âDie Heide ruftâ. Shaker, Aachen 2009, ISBN 978-3-8322-8810-5 (Zugleich Diplomarbeit an der Humboldt-UniversitĂ€t Berlin, 2008).
- Ilse Achilles u. a.; Joachim Walter (Hrsg.): Sexualbegleitung und Sexualassistenz bei Menschen mit Behinderungen. In: Edition S. Winter, Heidelberg 2004, ISBN 3-8253-8314-8.
- Monika Krenner: Sexualbegleitung bei Menschen mit geistiger Behinderung. Marburg 2003, ISBN 3-8288-8541-1.
- U. Krahmer, R. Richter: Heimgesetz. Lehr- und Praxiskommentar (LPK-HeimG). Baden-Baden 2003.
- Jörg M. Fegert, M. Wolff (Hrsg.): Sexueller Missbrauch durch Professionelle in Institutionen, PrĂ€vention und Intervention. Ein Werkbuch. In: Votum. 2., aktualisierte Auflage. Juventa, Weinheim / MĂŒnchen 2006, ISBN 3-7799-1816-1.
- Lothar Sandfort: Recht auf Liebeskummer. Emanzipatorische Sexualberatung fĂŒr Behinderte. erschienen bei xinxii.com, 2010.
- Heinrich W. Ahlemeyer: Prostitutive Intimkommunikation. Zur Mikrosoziologie heterosexueller Prostitution. Thieme, 1996, ISBN 3-432-27171-9. (Nachauflage: Geldgesteuerte Intimkommunikation. Psychosozial-Verlag, GieĂen 2002, ISBN 3-89806-088-8.)
- Kurt Marc Bachmann, Wolfgang Böker (Hrsg.): Sexueller Missbrauch in Psychotherapie und Psychiatrie. Huber, Bern / Göttingen / Toronto / Seattle 1994, ISBN 3-456-82485-8.
- Julia Zinsmeister: Mehrdimensionale Diskriminierung. Das Recht behinderter Frauen auf Gleichberechtigung und seine GewÀhrleistung durch Art. 3 GG und das einfache Recht. Nomos, Baden-Baden 2006, ISBN 3-8329-2009-9 (zugleich Dissertation an der Johann Wolfgang Goethe-UniversitÀt Frankfurt am Main 2006)
AufsÀtze
- Reschke, Kranich: Sexuelle GefĂŒhle und Phantasien in der Psychotherapie. Eine anonyme Fragebogenerhebung bei sĂ€chsischen PsychotherapeutInnen. In: Verhaltenstherapie und psychosoziale Praxis. 1996, Bd. 28 (2), S. 251â271.
- A. Bergmann: Das RechtsverhĂ€ltnis zwischen Dirne und Freier â das Prostitutionsgesetz aus zivilrechtlicher Sicht. In: JR. 2003, S. 270â276.
- W. Commander, K. Krott: Hand anlegen? In: Orientierung. 2/2003 S. 25.
- M. Crossmker: Behind Locked Doors: Institutional Sexual Abuse. In: Sexuality and Disability. 9 (3), 1991, S. 167 ff.
- Bernard Apfelbaum: The Myth of the Surrogate. In: The Journal of Sex Research. Taylor & Francis, Band 13, Nr. 4 (Nov. 1977), S. 238â249. (Vorschau)
Weblinks
- Sabine Dahm, Oliver Kestel: Juristische Aspekte der sexuellen Selbstbestimmung von Menschen mit (geistiger) Behinderung im Hinblick auf sexualpÀdagogische Begleitung sowie die Elternschaft von Menschen mit (geistiger) Behinderung. (PDF; 173 kB) profamilia.de
- Schweizer Radio und Fernsehen (SRF): Input - Liebe lernen mit einem Ersatzpartner auf Zeit. ĂŒber Absolute Beginners und Surrogatpartnerschaft von Sabine Meyer auf Radio SRF 3 (Schweizerdeutsch und Schweizer Hochdeutsch)
- Sexualbegleitung fĂŒr Menschen mit Behinderung: Edith liebt ihren Beruf I Ganze Folge auf YouTube aus der Reihe 37 Grad
- Das macht eine SEXUALBEGLEITERIN I Felicitas ĂŒber Sex mit Menschen mit Behinderung auf YouTube von Welt (Fernsehsender)
- Oliver hat Sex mit Menschen mit Behinderung - Nebenjob Sexualbegleiter auf YouTube von SWR Aktuell Rheinland-Pfalz
Einzelnachweise
- â Gerald P. Koocher, Patricia Keith-Spiegel: Ethics in psychology: professional standards and cases. McGraw-Hill, 1985, ISBN 0-07-554879-8, S. 103.
- â Muster-Berufsordnung fĂŒr die Psychologischen Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutinnen und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten (Stand 2014) ( vom 25. Juni 2014 im Internet Archive) (PDF; 95 kB)
- â Pro Familia in einer Expertise Sexuelle Assistenz fĂŒr Frauen und MĂ€nner mit Behinderung.
- â SexualitĂ€t und körperliche Behinderung als Herausforderung in der Sozialen Arbeit. (PDF; 824 kB) ab S. 51; abgerufen am 1. Januar 2012
- â surrogatpartnerschaft.blogspot.com, abgerufen am 19. April 2010.
- â ISBB Trebel
- â aufgehoben mit Wirkung vom 10. November 2016, Art. 1 Nr. 8 des Gesetzes vom 4. November 2016 (BGBl. I S. 2460)
- â Kurt J. Heinz: Sexueller MiĂbrauch oder âheilige Handlung im Auftrag der Göttinâ? â Bezahlte Dienste im Diakonischen Werk der EKD: âIch masturbiere ihn, bis er einen SamenerguĂ hatâ. In: Medrum, 15. April 2010, Archived by WebCite ( vom 16. April 2010 auf WebCite).
- â Gutachten zu den rechtlichen MaĂgaben und Grenzen der Sexualassistenz und Sexualbegleitung (PDF; 484 kB) profamilia.de, 2005, S. 58 m. w. N.