Gleitschirm
Gleitschirme sind spezielle, zum Gleitsegeln, Gleitschirmfliegen bzw. Paragleiten (abgeleitet von engl. Paragliding) gebaute und genutzte Luftsportgeräte. In Deutschland ist für Gleitschirm auch der umfassendere Begriff Gleitsegel, in Österreich Paragleiter üblich.
Luftrechtlich gehören Gleitschirme in Deutschland zur Luftfahrzeugklasse der Luftsportgeräte und stellen dort die eigene Ordnung der Gleitsegel. Jegliche Gleitsegel mit Motor (siehe Motorschirme) sind ebenfalls Luftsportgeräte, fallen aber in die Ordnung und den Bestimmungen der Ultraleichtflugzeuge.
Geschichte
Die ersten Ideen zu einem Fluggerät, das komplett aus Textilien besteht wurden bereits 1948 vom NASA-Ingenieur Francis Rogallo in einem Patent skizziert. Dieses beschreibt "nach vorne offene Stoffröhren, parallel nebeneinander angeordnet und durch den Fahrtwind aufgeblasen eine Tragfläche bildend". Konkrete Umsetzungen dieser Idee durch Rogallo oder die NASA sind jedoch nicht bekannt.
Als erster echter Gleitschirm gilt der einflächige Sailwing von David Barish von 1965.
Heutige Gleitschirme beruhen jedoch aufgrund der Geschichte des Gleitsegelfliegens und der dabei eingesetzen Schirmarten ebenso wie die heute im Fallschirmsport üblichen Fallschirme auf dem zweiflächigen mehrzelligen Parafoil-Fallschirmkonzept von Jalbert. Fallschirme und Gleitschirme haben sich mittlerweile aufgrund aerodynamischer und technischer Anpassungen an die speziellen Anforderungen der jeweiligen Sportart so weit auseinanderentwickelt, dass ein Fallschirm für Bergstarts heute ebenso ungeeignet ist, wie ein Gleitschirm für Fallschirmabsprünge.
Für Flüge, die über ein reines Abgleiten vom Start- zum Landeplatz im Gleitwinkelbereich hinausgehen, nutzen Gleitschirme, ebenso wie Hängegleiter und Segelflugzeuge, dynamische Hangaufwinde und vor allem die Thermik. Auf diese Weise können Flughöhen von über 5'000 m und Distanzen von mehr als 400 km erreicht werden.
Aufbau
Ein Gleitschirm besteht aus einer sog. Kappe, die durch Fangleinen mit einem Gurtzeug verbunden ist.
Schirmkappe
Die Kappe, auch Kalotte genannt, ist eine elliptische Tragfläche aus Nylon-Stoff, der durch die so genannte Ripstop-Technik besonders reißfest gewebt ist. Für eine bessere Luftundurchlässigkeit ist das Gewebe zusätzlich beschichtet, oftmals auf Silikonbasis. Dies schützt zudem das Material gegen mechanische Beanspruchung und UV-Licht-bedingte Alterung.
Die Kappe besteht aus einem Ober- und einem Untersegel und ist in zahlreiche Kammern in Längsrichtung unterteilt. Die hintere Seite einer solchen Kammerzelle ist zugenäht, an der Vorderseite befindet sich die Eintrittskante, durch die die einzelnen Kammern beim Aufziehen des Gleitschirms mit Luft gefüllt werden. Durch den entstehenden Staudruck wird die Kappe versteift, so dass ein möglichst optimales Flügelprofil entsteht, an welchem eine Luftströmung anliegt und Auftrieb erzeugt. Nebeneinanderliegende Kammerzellen sind durch Öffnungen, den Cross-Ports, miteinander verbunden und gleichen den Staudruck innerhalb der gesamten Kappe aus.
Leinen
Die von der Segelunterseite in mehreren Ebenen herablaufenden Fangleinen werden zu Stammleinen zusammengeführt, die wiederum in Leinenschlösser eingehängt und mit dem jeweiligen linken und rechten Gurtband verbunden sind. Über diese Gurtbänder, auch Tragegurte genannt, wird der Gleitschirm mittels Karabinern mit dem Gurtzeug des Piloten verbunden. Gesteuert wird ein Gleitschirm durch je eine Steuerleine auf der linken und rechten Seite, deren Fangleinen die Hinterkante des Gleitschirms herunterziehen können, sowie durch Gewichtsverlagerung des Piloten im Gurtzeug.
Durch ein Beschleunigersystem können die Leinen auf der Vorderseite des Flügelprofils verkürzt werden. Die damit verbundene Verkleinerung des Anstellwinkels führt zu einem schnelleren Flug bei gleichzeitig grösserem Höhenverlust.
Als Fangleinen werden zumeist Aramid- oder Dyneema-Leinen mit einem Kerndurchmesser von ca. 0,6 bis 2,0 mm verwendet. Diese Kunstfasern haben trotz dünnen Durchmessers eine hohe Reißfestigkeit. In Seriengeräten sind diese Leinenkerne durch eine weitere Textilummantelung vor UV-Licht und mechanischer Beanspruchung geschützt. Wettkampfschirme verzichten zugunsten des geringeren Luftwiderstandes auf die Ummantelung.
Technische Daten
Die Kappe von einsitzigen Gleitschirmen hat eine ausgelegte Fläche von ca. 20 bis 35 m² und eine Spannweite von 10 bis 13 m. Gleitschirme für den Tandemflug haben eine Fläche von bis zu 43 m².
Gleitschirmmodelle werden in mehreren Größen für verschiedene Gewichtsbereiche angeboten. Das minimal und maximal zulässige Fluggewicht ist bei zugelassenen Geräten vom Hersteller vorgegeben. Es liegt zwischen 60 kg bei Schirmen mit kleiner Fläche und endet bei einsitzigen Gleitschirmen bei ca. 130 kg, Tandemschirme können bis zu 250 kg in die Luft bringen. Das Fluggewicht berücksichtigt das Gewicht des Piloten (inkl. Bekleidung), Gurtzeug, Gleischirmkappe, Rettungsgerät, Packsack und sonstige mitgeführten Dinge. Für die Ausrüstung ist mit etwa 15-20 kg zu rechnen.
Bei maximaler Zuladung eines Gleitschirms wird die höhere Flächenbelastung (kg/m²) in Vorwärtsgeschwindigkeit umgesetzt. Daraus resultiert leider auch eine grössere Sinkgeschwindigkeit. Der Schirm reagiert dafür schneller auf Steuerimpulse, er wird dynamischer, „giftiger“. Vor allem beim Gleitschirm-Akro ist diese Eigenschaft sehr erwünscht, so dass diese Piloten vielfach am oberen Ende des Gewichtsbereichs oder gar über dem Gewichtslimit fliegen.
Beim Minimalgewicht folgt daraus eine kleine Flächenbelastung des Schirms. Der Gleitschirm hat zwar eine geringere Sinkgeschwindigkeit aber auch eine geringere Vorwärtsgeschwindigkeit und zeigt eher eine instabile Flugbahn, die ständig mittels Steuerimpulsen stabilisiert werden muss.
Zulassung und Klassifizierung
Gleitschirme müssen in Deutschland und Österreich von einer anerkannten Prüfstelle zugelassen sein, bevor mit ihnen geflogen werden darf. In der Schweiz ist das nur für Gleitschirme, die während der Ausbildung und an Prüfungen verwendet werden, nötig. In anderen Ländern besteht diese Verpflichtung nicht.
Zulassung
Vom deutschen Luftfahrt-Bundesamt und der österreichischen Luftfahrtbehörde wurde die Aufgabe der Typenprüfung an den DHV übertragen, der für jedes Modell eine Musterprüfung durchführt. Der Hersteller führt dann an jedem hergestellten Gleitschirm eine Stückprüfung durch und bestätigt die Übereinstimmung mit dem geprüften Muster.
Im Rahmen der Zulassung werden Gleitschirme in Klassen eingeteilt, die unterschiedliche Ansprüche an das Pilotenkönnen stellen. Dabei werden von Profis verschiedene vordefinierte Flugsituationen forciert und die Reaktion des Schirmes darauf geprüft. Weiter werden die Schirme verschiedenen Belastungstests ausgesetzt.
Ähnlich wie Automobile müssen in einigen Ländern (z.B. Deutschland und Österreich) Gleitschirme in regelmäßigen Abständen überprüft werden. Das Nachprüfintervall beträgt üblicherweise 2 Jahre und wird vom Hersteller individuell festgelegt. Hierbei wird das Fluggerät auf Beschädigungen, erforderliche Luftundurchlässigkeit des Tuchs sowie Länge und Festigkeit der Leinen überprüft.
Klassifizierung
Für Anfänger geeignet sind Schirme der Klasse DHV 1 (Gleitschirme mit einfachem, weitgehend fehlerverzeihendem Flugverhalten) oder DHV 1-2 (Gleitschirme mit gutmütigem Flugverhalten). Die Klassen DHV 2 (Gleitschirme mit anspruchsvollem Flugverhalten und dynamischen Reaktionen auf Störungen und Pilotenfehler) und DHV 2-3 (Gleitschirme mit sehr anspruchsvollem Flugverhalten und heftigen Reaktionen auf Störungen und geringem Spielraum für Pilotenfehler) setzen längere Erfahrung und regelmäßige Flugpraxis voraus. Die Klasse DHV 3 ist nur besonders routinierten Piloten zu empfehlen. Wettkampfschirme haben meist keine Zulassung, sondern werden im Rahmen einer Breitenerprobung geflogen. Die Qualifikation hierzu müssen interessierte Piloten gesondert nachweisen.
Die Klassifizierung richtet sich ausschließlich nach der Flugsicherheit und nicht nach Leistungsmerkmalen. Es ist jedoch durchaus normal, dass ein Gleitschirm einer höheren Klasse die Energie einer Turbulenz in Höhe umsetzt, während ein Einsteigerschirm diese Energie durch Dämpfung im Schirm 'vernichtet'. Somit verfügen normalerweise höher eingestufte Gleitschirme über bessere Leistungsmerkmale wie besseres Gleiten und höhere Geschwindigkeit.
Ein alternatives Prüfungsverfahren für Gleitschirme ist die Prüfung nach AFNOR (Association Francaise de Normalisation). Hier werden Gleitschirme unterteilt in die Klassen Standard, Performance und Competition. Diese Zertifizierung ist ähnlich der oben beschriebenen Norm des DHV. Sie ist vor allem in der französisch- und englischsprachigen Fliegerwelt verbreitet, wird jedoch in Deutschland und Österreich nicht anerkannt.
Leistung
Geschwindigkeit
Ein moderner Gleitschirm hat einen Geschwindigkeitsbereich von ca. 22 bis 60 km/h, wobei die Trimmgeschwindigkeit, also die Geschwindigkeit bei offener Bremse, zwischen 33 und 39 km/h liegt. Durch gleichzeitiges Ziehen beider Steuerleinen wird das Segel an der Hinterkante nach unten gewölbt. Hierdurch läßt sich die Fluggeschwindigkeit auf 20 bis 25 km/h vermindern. Aktuelle Seriengeräte fliegen im beschleunigtem Zustand bis zu 55 km/h schnell, Hochleister für den Wettkampf bis zu 70 km/h.
Diese Geschwindigkeiten beziehen sich in Relation zur umgebenen Luft (true air speed). Die Geschwindigkeit über Grund (ground speed) ist von den Luftbewegungen, wie Gegenwind oder Rückenwind, abhängig.
Gleitleistung
Die Gleitleistung moderner Gleitsegel der Serienklasse liegt bei über 8:1, d.h. ein Meter Höhe wird in 8 Meter horizontale Strecke umgesetzt. Wettkampfschirme erreichen fast ein Gleitverhältnis von 10:1, liegen damit aber immer noch deutlich hinter Hängegleitern (bis zu 15:1). Die minimale Sinkgeschwindigkeit liegt bei 1,0 m/s, im Trimmflug ist diese um ca. 0,3 m/s höher.
Distanzen
Flüge von über 100 Kilometern sind heute unter Ausnutzung von Thermik keine Seltenheit mehr, es wurden schon Distanzen von über 400 Kilometern geflogen (siehe Streckenfliegen).
Sicherheit
Der Gleitschirmsport wird in der Regel nicht als Risikosportart eingestuft. Um Gefahrensituationen entegegen zu treten, ist es wichtig, sich über die Wettersituation und das Fluggelände zu informieren. Je nach Wetterlage sind bestimmte Fluggebiete vor zu ziehen oder sogar zu meiden.
Wind
Bei Windgeschwindigkeiten ab 30 km/h ist die Eigengeschwindigkeit normaler Gleitschirme im Normalflug erreicht. Ein Zunehmen des Windes kann einen Rückwärtsflug zur Folge haben. In der näheren Umgebung von steil abfallendem Gelände kann es zu einer starken Windzunahme kommen, welche zu einem Höhengewinn genutzt werden kann. Dies kann auch starke Turbulenzen mit sich bringen, weshalb ein Mindestabstand zum Geländerelief empfohlen wird. Im Lee von Hügeln und Anhöhen können sich Rotoren bilden, welche wiederum zu Turbulenzen und starkem Höhenverlust führen können.
Siehe auch
Gleitsegel, Gleitschirmfliegen, Rettungsfallschirm, Hängegleiter, Gleitfallschirm
Weblinks
- Physikalische Grundlagen 1 (pdf)
- Physikalische Grundlagen 2 (pdf)
- Physikalische Grundlagen 3 (pdf)
- Deutscher Hängegleiter-Verband e. V. (DHV) [1]
- Schweizerischer Hängegleiter Verband (SHV) [2]
- Österreichischer Aero Club (ÖAeC) [3]
- Facharbeit: Physik des Gleitschirmfliegens (pdf)
- Para2000 - Umfangreiches Gleitschirmportal aus Frankreich
Literatur
- Peter Janssen, Karl Slezak, Klaus Tänzler: Gleitschirmfliegen - Theorie und Praxis, Nymphenburger Verlag, ISBN 3-48500-899-0
- Thomas Ulrich, Rasso Knoller, Claudia Frühwirth: Gleitschirmfliegen, Steiger Verlag, ISBN 3-89652-166-7
- Toni Schlager: Gleitschirmfliegen - Vom Anfänger zum Profi, Bruckmann Verlag; sehr umfassend, mit Flugpraxis und Theorie
- Fachzeitschrift GLEITSCHIRM Zeitschrift für Gleitschirmflieger, Thermik Verlag (Wels)