Rumantsch Grischun

Graubündner Rätoromanisch
(Rumantsch Grischun)
Projektautor Heinrich Schmid im Auftrag der Lia Rumantscha
Jahr der Veröffentlichung 1982

Gesprochen in

Schweiz Schweiz (Kanton Graubünden)
Sprecher sehr wenige (≪ 1.000), bis auf Nachrichtensprecher reine Schriftsprache
Linguistische
Klassifikation
Besonderheiten Als gemeinsame Schriftsprache für die bündnerromanischen Sprachen entwickelt
Sprachcodes
ISO 639-1

rm

ISO 639-2

roh

Rumantsch Grischun (RG, [ruˈmantʃgriˌʒʊn]/?) ist die 1982 von Heinrich Schmid auf Initiative des damaligen Generalsekretärs der Lia Rumantscha, Bernard Cathomas, entwickelte gemeinsame Schriftsprache der Rätoromanen Graubündens, die seit 2001 auf Kantonsebene als romanische Amtssprache dient.

Entwicklung

Rumantsch Grischun wurde auf Grundlage der drei vitalsten Idiome Unterengadinisch (Vallader), Surmeirisch (Surmiran) und Surselvisch (Sursilvan) vom Sprachwissenschaftler Heinrich Schmid in Zürich geschaffen. Er suchte dabei stets nach der grössten Gemeinsamkeit zwischen den drei Dialekten; regionale bzw. lokale lautliche und grammatikalische Besonderheiten wurden folglich nicht miteinbezogen. So gibt es im Rumantsch Grischun keine ö- und ü-Laute, weil diese nur im Unter- und Oberengadinischen üblich sind; umgekehrt fehlt etwa der Diphthong /ia/ des Surselvischen. Die folgenden Beispiele mögen dies veranschaulichen:[1]

Surselvisch Surmeirisch Vallader Rumantsch Grischun Deutsch
clav clav clav clav ‚Schlüssel‘
fil feil fil fil ‚Faden‘
tschiel tschiel tschel tschiel ‚Himmel‘
siat set set set ‚sieben‘
cor cor cour cor ‚Herz‘
egl îgl ögl egl ‚Auge‘
vendiu vendia vendü vendi ‚verkauft‘

Rechtschreibung

Bei der Orthographie versuchte Schmid, möglichst an die Lesegewohnheiten der Bündnerromanen anzuknüpfen, um die Akzeptanz seines neuen Standards zu erleichtern: Der dem deutschen <tsch> ähnliche Laut vor [a], [o] und [u] wird als <ch> geschrieben, wie es dem Unterengadinischen entspricht (chalanda), weil auch Sprecher aus den Rheingebieten hier eine Schreibung mit <c> erwarten (calanda). Dagegen wird dieser Laut vor [e] und [i] entsprechend der Schreibung in Sursilvan und Surmeir mit <tg> geschrieben. Gemäss einer Regel, die «Leza-Uffer-Kompromiss» genannt wird, werden die <che> und <chi> wie [ke] und [ki] ausgesprochen.

Akzeptanz

Stand: September 2013
  • Gemeinden, die Rumantsch Grischun als Schulsprache eingeführt hatten
  • Gemeinden, in denen in einem Schriftidiom unterrichtet wurde
  • Gemeinden, die Rumantsch Grischun als Schulsprache eingeführt hatten, aber eine Rückkehr zum Idiom beschlossen hatten
  • Plakat zur Initiative über das kantonale Sprachgesetz in Graubünden.
    Es gibt auch Widerstand gegen Rumantsch Grischun. Hier ein Poster der Gruppe Pro Idioms in der Sprache Sursilvan. Die Gruppe lehnt die Einführung von Rumantsch Grischun in Schulen ab. Die Unterschiede sind klar zu erkennen. Aus gea wird gie, è wird ei. dumonda «Frage» wird in Sursilvan damonda geschrieben.

    Die romanische Einheitssprache ist bei der Bevölkerung umstritten. Der Kanton und der Bund sind in den letzten Jahren dazu übergegangen, ihre Drucksachen in Rumantsch Grischun zu verfassen. In den gedruckten und elektronischen Medien herrschen zwar noch die regionalen Idiome vor, doch gelangt Rumantsch Grischun gerade in überregionalem Zusammenhang auch hier mehr und mehr zur Anwendung. So sind beispielsweise die Webauftritte der Lia Rumantscha und des Dicziunari Rumantsch Grischun sowie das Lexicon Istoric Retic, die rätoromanische Ausgabe des Historischen Lexikons der Schweiz, in der Einheitssprache verfasst, da sie sich an alle Rätoromanen richten. Die Literatur wird dagegen bislang noch fast ausschliesslich in den regionalen Idiomen geschrieben, und auch die Kirche hält an diesen fest.

    Auch in den Bündner Gymnasien wird heute Rumantsch Grischun gelehrt, während die Einführung der Einheitssprache in den kommunal geführten Volksschulen in den Nullerjahren von den kantonalen Behörden forciert worden ist. Indes liegt die Kompetenz zur Festsetzung der Unterrichtssprache an den Primarschulen allein bei den Gemeinden, von denen sich bis zum Schuljahr 2009/2010 insgesamt 40 (etwa die Hälfte) für das Rumantsch Grischun entschieden hatten. Es handelte sich dabei zumeist um Dialektgebiete, die entweder dem Rumantsch Grischun sprachlich sehr nahestehen (Mittelbünden) oder aber in denen schon zuvor der Abstand zur Regionalschriftsprache relativ gross war (Val Müstair) oder die stark vom Deutschen bedrängt werden (unteres Oberland, Rheintal westlich von Chur).

    Im Jahr 2011 haben sich zunächst 14 dieser Gemeinden dazu entschlossen, wieder in ihrer regionalen Schriftsprache zu unterrichten. In der Folge entschied im Dezember 2011 der Grosse Rat des Kantons Graubünden, dass Lehrmittel für rätoromanische Primarschulen wieder in den fünf romanischen Idiomen gedruckt werden können. Der Beschluss aus dem Jahr 2003, Lehrmittel für die rätoromanischen Schulen ab 2005 nur noch in Rumantsch Grischun herauszugeben, war in den Regionen auf teils erbitterten Widerstand gestossen. Regierungsrat Martin Jäger sagte, das Konzept, Rumantsch Grischun freiwillig in den Schulen einzuführen, sei nicht erfolgreich verlaufen.[2] Am 24. Juli 2020 hat auch Surses, als eine der letzten grossen Rumantsch-Grischun-Gemeinden, infolge einer Volksinitiative beschlossen, zum eigenen Idiom, dem Surmiran, als Alphabetisierungssprache zurückzukehren;[3][4][5] seither unterrichten alle Volksschulen wieder in ihrem Idiom, und die Lehrmittel werden in jedem Idiom herausgegeben.[6]

    Seit 2021 wird das Wahlfach Rätoromanisch an der gymnasialen Oberstufe Graubündens unterrichtet, das den Schülern Rumantsch Grischun gleichberechtigt anstelle der Wahl eines Idioms anbietet.[6] Mit Schuljahr 2023/2024 soll das Angebot auf die gesamte Deutschschweiz ausgedehnt werden.[6] Die Nachrichten des Radio RTR sowie ein Teil der Telesguard (Tagesschau) werden in Rumantsch Grischun gesprochen, die übrigen Inhalte der Radiotelevisiun Svizra Rumantscha (RTR) im Idiom der jeweiligen Mitarbeiter (Stand: 2022).

    Beispiele

    Rumantsch Grischun Deutsch
    allegra grüezi, grüss Gott!
    a revair! auf Wiedersehen
    l’atun der Herbst
    l’aua das Wasser
    l’aura Das Wetter
    la preveziun da l’aura der Wetterbericht
    bainvegni! willkommen!
    baiver trinken
    la bavronda das Getränk
    il bogn das Bad
    bun di! guten Morgen
    buna Saira! guten Abend!
    bun divertiment! viel Vergnügen!
    bun viadi! gute Reise!
    buna notg! gute Nacht!
    la butia der Laden
    La butia è serrada Der Laden ist geschlossen
    il capricorn der Steinbock
    chapir, jau chapesch verstehen, ich verstehe
    la chombra das Zimmer
    Avais Vus anc ina chombra dubla? Haben Sie noch ein Doppelzimmer
    cumprar kaufen
    Avais gia cumprà ils bigliets? Habt ihr die Billiete schon gekauft?
    custar kosten
    Quant costa quest cudesch? Wieviel kostet das Buch?
    la cuntrada die Landschaft
    dir sagen
    Co din ins quai per rumantsch? Wie sagt man das auf Rumantsch?
    l’ensolver das Morgenessen
    Cura datti envolver? Wann gibt es Morgenessen?
    l’enviern der Winter
    la flur die Blume
    tge bellas flurs! welch schöne Blumen!
    gea ja
    il gentar das Mittagessen
    Nua vas a gentar? Wo gehst du zum Mittagessen?
    il glatsch das Eis
    il glatscher, il vadretg der Gletscher
    grazia danken
    il lai der See
    la maisa der Tisch
    Jau vuless reservar ina maisa da quatter. Ich möchte einen Tisch für 4 Personen reservieren.
    mangiar essen
    Nua mang’ ins bain? Wo isst man gut?
    las marcas die Briefmarken
    Avais vus marcas? Haben Sie Briefmarken?
    la muntanella das Murmeltier
    la muntogna der Berg
    na nein
    la naiv der Schnee
    l’aissa da naiv das Snowboard
    il num der Name
    jau hai num … ich heisse …
    pajar bezahlen
    il paun das Brot
    il pass der Pass
    il passlung der Langlauf
    ir cun patins eislaufen
    il piz der Gipfel
    la primavaira der Frühling
    la pulpa Bündnerfleisch
    il quint die Rechnung
    Il quint per plaschair! Die Rechnung bitte!
    reservar reservieren
    recumandar empfehlen
    il schember die Arve
    la schuppa da giutta grischuna die Bündner Gerstensuppe
    il magister da skis der Skilehrer
    la scola da skis die Skischule
    scursalar schlitteln, rodeln
    far ina spassegiada einen Spaziergang machen
    la stad der Sommer
    La staziun der Bahnhof
    Nus spetgain a la staziun. Wir warten am Bahnhof
    il sulegl die Sonne
    il temp die Zeit
    la chaina das Abendessen
    l’ura die Uhr, die Stunde
    las uras d’avertura die Öffnungszeiten
    l’urari der Fahrplan, der Stundenplan
    la val das Tal
    Viafier retica Rhätische Bahn
    viandar wandern
    la vischnanza das Dorf
    Viva! Prost! Zum Wohl!

    Siehe auch

    Literatur

    • Heinrich Schmid: Richtlinien für die Gestaltung einer gesamtbündnerischen Schriftsprache: Rumantsch Grischun. Chur 1982.
    • Georges Darms, Anna-Alice Dazzi, Manfred Gross: Langenscheidts Wörterbuch Rätoromanisch. Langenscheidt, Zürich / Ligia Romontscha, Chur 1989, ISBN 3-906725-01-4 (Das erste Wörterbuch für Rumantsch Grischun überhaupt, rumantsch grischun–deutsch / deutsch–rumantsch grischun).
    • Georges Darms: Bündnerromanisch: Sprachnormierung und Standardsprache. In: Lexikon der Romanistischen Linguistik (LRL). Bd. III. de Gruyter, Tübingen 1989, S. 827–853.
    • Georges Darms, Anna-Alice Dazzi: Grundlagenarbeiten zur Schaffung einer rätoromanischen Schriftsprache (Rumantsch Grischun). Schweizerischer Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung, Jahresbericht 1984, S. 188–194.
    • Renata Coray: Von der Mumma Romontscha zum Retortenbaby Rumantsch Grischun. Rätoromanische Sprachmythen. Verlag Bündner Monatsblatt, Chur 2008, ISBN 978-3-905342-43-7 (Zugl.: Zürich, Univ., Diss., 2006/2007).
    • Renata Coray: „Stai si, defenda, tiu code funczional!“ Rumantsch Grischun im öffentlichen Diskurs. In: Bündner Monatsblatt. 1/2009, ISSN 1011-6885, S.  3–24, doi:10.5169/seals-398921.
    • Bernard Cathomas: Der Weg zu einer gemeinsamen romanischen Schriftsprache. Entstehung, Ausbau und Verbreitung des Rumantsch Grischun. In: Bündner Monatsblatt. Chur 1/2012, OCLC 915222096, S. 28–62, doi:10.5169/seals-398983.
    • Bernard Cathomas: Dreissig Jahre Rumantsch Grischun: Ein alter Traum wird Wirklichkeit. In: Minority Languages in Europe and Beyond – Results and Prospects (= Studies in Eurolinguistcs. Band 9). Hrsg. von P. Sture Ureland und John Steward. Logos, Berlin 2015, ISBN 978-3-8325-3919-1, S. 149–168.
    • Rumantsch Grischun per Rumantschs – Grammatica I. (PDF; 158 kB) In: pledarigrond.ch. Lia Rumantscha, archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 18. Februar 2015; abgerufen am 13. Dezember 2015 (rätoromanisch, Grammatik in Romantsch Grischun).
    • Gereon Janzing: Reise Know-How Kauderwelsch Rätoromanisch – Wort für Wort (= Kauderwelsch-Sprachführer. Band 197). Reise Know-How, Bielefeld 2011, ISBN 978-3-89416-365-5.

    Sprachbeispiel

    • Lia rumantscha: Asterix ed ils Helvets (= In’aventura d’Asterix). Felix Gigers Übersetzung des Comics von René Goscinny, Albert Uderzo: Asterix chez les Helvètes. Version in Rumantsch Grischun. Lia rumantscha, Cuira 1984, OCLC 80542032.

    Einzelnachweise

    1. Ricarda Liver: Rätoromanisch. Eine Einführung in das Bündnerromanische. Gunter Narr, Tübingen 1999, S. 69–71.
    2. Rückschlag für Rumantsch Grischun an den Volksschulen. In: suedostschweiz.ch. Online-Meldung, 8. Dezember 2011, abgerufen am 8. Mai 2016.
    3. Beschlüsse der Gemeindeversammlung Surses. (PDF; 196 kB) In: surses.ch, Gemeindevorstand Surses, 28. Juli 2020, abgerufen am 2. August 2020.
    4. (obe/jas/cao): Klares Votum gegen Rumantsch Grischun. In: suedostschweiz.ch, 25. Juli 2020, abgerufen am 2. August 2020.
    5. Initiativkomitee für die Wiedereinführung des Rumantsch Surmiran in der Schule: Botschaft Zur Gemeindeversammlung vom 24. Juli 2020. (PDF; 371 kB) In: surses.ch, Gemeindevorstand Surses, 24. Juli 2020, abgerufen am 2. August 2020.
    6. a b c Claudia Baumberger: Rätoromanisch – mehr als eine Geheimsprache. In: Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz LCH (Hrsg.): Bildung Schweiz. Nr. 1/22, 18. Januar 2022, ISSN 1424-6880, S. 22–23 (lch.ch [PDF; 8,6 MB; abgerufen am 1. Juli 2022]).