Dysmorphophobie

Klassifikation nach ICD-10
F22.8 Sonstige anhaltende wahnhafte Störungen
Wahnhafte Dysmorphophobie
F45.2 Hypochondrische Störung
Dysmorphophobie (nicht wahnhaft)
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ICD-10 online (WHO-Version 2019)

Die Dysmorphophobie oder körperdysmorphe Störung, genannt auch Entstellungssyndrom, ist eine Störung der Wahrnehmung des eigenen Körpers. Die normalpsychologische Grundlage der Körperschemastörung ist das Konzept des Körperschemas.

Etymologie und Synonyme

Der Ausdruck ist ein Gräzismus, gebildet aus dem altgriechischen dys ‚schlecht‘ (hier im Sinne von ‚Miss-‘) und morphé ‚Form‘ (hier im Sinne von ‚gestaltet‘) sowie phóbos ‚Furcht‘. Er wurde erstmals 1886 von dem Turiner Neurologen Enrico Morselli (1852–1929) verwendet.[1] Die ICD-10 hat diesen Ausdruck übernommen.

Synonyme sind Missgestaltsfurcht, körperdysmorphe Störung bzw. englisch Body Dysmorphic Disorder (nach DSM-IV-TR), Körperbildstörung bzw. Body Image Disturbance oder auch Thersites-Komplex.

Eine weitere klinische Störung ist die „muskeldysmorphe Störung“, die oft als Unterform der körperdysmorphen Störung gesehen wird. Oft wird sie aber auch in Verbindung mit Essstörungen gebracht, da viele kognitive und behaviorale Mechanismen ähnlich zu sein scheinen.[2][3] Diese Symptomatik wird oft als Adonis-Komplex bezeichnet.[4] Auch die Ausdrücke Körperdysmorphie bzw. body dysmorphia oder Muskeldysmorphie bzw. muscle dysmorphia finden für die männliche Form bis heute Verwendung.[5][6] Der Unterschied zur körperdysmorphen Störung besteht darin, dass bei der Muskeldysmorphie nicht einzelne Körperteile als entstellt wahrgenommen werden, sondern sich der wahrgenommene Makel auf die gesamte Muskulatur bezieht: Betroffene gehen davon aus, zu klein und schmächtig zu sein. Darin besteht nun auch der Unterschied zur klassischen Essstörung, bei der die Betroffenen denken, zu dick zu sein, und Körpermasse vermindern wollen, anstatt sie zu vermehren.[7][8]

Definitionen

Morselli definierte eine Gruppe von drei Symptomen (Trias) –

  • wahnhafte Überzeugung, von einem körperlichen Defekt betroffen zu sein
  • Scham gegenüber Mitmenschen und
  • sexuelle Hemmung

– als pathognomonisch für die Erkrankung.

Das Buch Pflegediagnosen und Maßnahmen[9] beschreibt Dysmorphophobie als einen „vom Patienten definierter Belastungszustand, der zeigt, dass der Körper nicht mehr länger das Selbstwertgefühl einer Person unterstützt und sich störend auf die Person auswirkt, indem er ihre sozialen Beziehungen begrenzt.“

Price (1999) definiert: „Ein verändertes Körperbild liegt vor, wenn individuelle und soziale Copingstrategien zur Veränderung der Körperrealität, des Körperideals und der Körperrepräsentation durch Verletzung, Erkrankung oder Behinderung oder soziale Stigmatisierung unwirksam oder überfordert werden.“

Das DSM-IV nennt die folgenden drei Kriterien, nach denen eine Body Dysmorphic Disorder angenommen werden kann:[10]

  • A: Beschäftigung mit einem eingebildeten Schönheitsfehler. Wenn eine leichte körperliche Anomalie vorhanden ist, ist die Sorge der Person deutlich übertrieben.
  • B: Eines der folgenden Kriterien trifft zu.
    • B1: Die Beschäftigung mit dem Schönheitsfehler verursacht klinisch signifikanten Stress, oder
    • B2: Beeinträchtigung in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.
  • C: Die Beschäftigung mit dem Schönheitsfehler ist nicht besser durch eine andere psychische Störung erklärbar (z. B. Unzufriedenheit mit der Körperform und -größe bei Anorexia nervosa).

Häufigkeit

Eine Studie aus 2009, die über 2.500 repräsentativ ausgewählte Deutsche im Alter von 14 bis 93 Jahren befragte, ermittelte eine Prävalenz von 2,0 % bei Frauen und 1,5 % bei Männern bezogen auf die Body Dysmorphic Disorder nach den DSM-IV-Kriterien. Nur bezogen auf die Kriterien A und B (ohne Ausschluss anderer psychischer Störungen) liegt die Häufigkeit bei 5,6 % für Frauen und 2,5 % für Männer.[10] Eine systematische Übersichtsarbeit aus 2016 ermittelte eine Prävalenz von 1,9 % in der allgemeinen erwachsenen Bevölkerung (2,1 % bei Frauen, 1,6 % bei Männern).[11]

Ursachen

Die genauen Ursachen für die Entstehung der körperdysmorphen Störung sind unbekannt. Es wird mittlerweile angenommen, dass sowohl biologische als auch soziokulturelle Faktoren hierbei eine Rolle spielen könnten. Vor allem im angelsächsischen Wissenschaftsbetrieb wird die körperdysmorphe Störung ebenso wie u. a. Hypochondrie, Trichotillomanie und Anorexia nervosa zu den Zwangsspektrumserkrankungen (Obsessive Compulsive Spectrum Disorders) gezählt. Die Ursachen seien daher ähnlich wie bei der Zwangsstörung.[12]

In jüngster Zeit wird ein Zusammenhang zwischen der Nutzung sozialer Medien und der Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper bzw. damit zusammenhängend die Entwicklung einer körperdysmorphen Störung diskutiert. Insbesondere der häufige visuelle Vergleich mit anderen, als besser aussehend wahrgenommenen Personen („Aufwärtsvergleich“) könnte die Entwicklung von Symptomen begünstigen, die den Symptomen der körperdysmorphen Störung ähneln, und zudem zur Aufrechterhaltung der Symptome beitragen. Während Frauen möglicherweise mehr Zeit in sozialen Medien verbringen und dort auch häufiger visuelle Vergleiche durchführen und daher stärker betroffen sein könnten, kann auch bei Männern eine negative Auswirkung auf die eigene Körperwahrnehmung im Zusammenhang mit sozialen Medien festgestellt werden, insbesondere im Hinblick auf die Muskulatur.[13]

Symptome

Die Betroffenen nehmen ihren Körper oder einzelne Körperteile als hässlich oder entstellt wahr. Am häufigsten werden das Gesicht und der Kopf so wahrgenommen, z. B. infolge von Akne, Narben, einer als zu groß empfundenen Nase oder Ohren oder asymmetrischen Gesichtszügen. Etwas seltener werden Füße oder Geschlechtsteile so wahrgenommen.

Die Betroffenen leiden wegen dieser Einschätzung ihres Aussehens oft unter zwanghaften Gedanken, die bis zu mehrere Stunden am Tag andauern können. Weiterhin zeigen sie oftmals sogenannte ritualisierte Verhaltensweisen: Überprüfen des Erscheinungsbildes in Spiegeln oder anderen reflektierenden Oberflächen, Vergleichen des eigenen Aussehens mit dem von anderen Personen, Auftragen von Makeup oder anderen Kosmetikartikeln.

Viele der Betroffenen haben keine oder nur eine geringe Krankheitseinsicht, sondern sind fest davon überzeugt, enorm unattraktiv zu sein.

Der Dopingforscher Luitpold Kistler hat darauf hingewiesen, dass die Krankheit auch bei Bodybuildern auftritt, die trotz objektiv enormer Muskelmasse vermeintliche Defizite an sich feststellen würden:[14]

„Diese Menschen haben ein gestörtes Selbstbild. Wenn ein 140 Kilogramm schwerer, muskelbepackter Mann, der zehn Kilogramm abnimmt, nicht mehr aus dem Haus herausgeht, weil er denkt, er wäre zu dünn – dann ist er krank.“

Auch Selbstverletzendes Verhalten (SVV) ist häufiges Symptom für Störungen in der Wahrnehmung hinsichtlich des eigenen Körpers.

Soziale Folgen

Die Fremdwahrnehmung hinsichtlich des eigenen Körpers weist bei Dysmorphophobie große bis extreme Unterschiede zur Selbstwahrnehmung auf. Die Betroffenen fühlen sich häufig in der Öffentlichkeit von anderen angestarrt und fürchten, die vermeintliche Entstellung gebe anderen Anlass zu Ablehnung, Verachtung oder anderen negativen Bewertungen. Aufgrund der befürchteten Hässlichkeit des eigenen Körpers ist es für Betroffene oftmals schwierig bis unmöglich, sich mit als attraktiv empfundenen Personen zu unterhalten und eine Liebesbeziehung zu führen.

Dysmorphophobie kann den Rückzug aus dem gesellschaftlichen Leben zur Folge haben, in Extremfällen auch eine vollständige soziale Isolation. Die Komorbidität mit der sozialen Phobie ist sehr hoch. Eine Studie aus dem Jahr 1997 ergab, dass bei Personen, die sowohl unter einer körperdysmorphen Störung als auch unter einer sozialen Phobie litten, der Störungsbeginn der sozialen Phobie in allen Fällen vor dem Störungsbeginn der körperdysmorphen Störung lag.[15]

Eine weitere Folge kann der Wunsch nach einer kosmetischen Korrektur der angeblichen Defizite sein.[16]

Behandlung

Betroffene begeben sich oftmals nicht oder erst sehr spät in Behandlung, meist aus Scham oder Unwissenheit, dass sie unter einer Krankheit leiden, die man psychiatrisch oder psychotherapeutisch behandeln kann.

Eine Metaanalyse der kognitiv-behavioralen Psychotherapieresultate aus acht Fallserien und zwei kontrollierten Untersuchungen ergab, dass kognitive Verhaltenstherapie bei Patienten mit einer Dysmorphophobie bzw. körperdysmorphen Störung wirksam ist.[17] Ebenso haben sich Serotonin-Wiederaufnahmehemmer als wirksam erwiesen.[18][19] Insbesondere Fluoxetin zeigt ein gutes Ansprechen in Monotherapie.[20] Zwei Studien, die sich mit einer möglichen additiven Wirkung von Antipsychotika in Kombination mit SSRI beschäftigt haben, konnten keinen oder nur fraglichen Effekt zeigen.[21][22] Eine neuere Arbeit zeigt auch die Wirksamkeit von Escitalopram bei dieser Störung.[23]

Siehe auch

Literatur

  • Stefan Brunhoeber,: Kognitive Verhaltenstherapie bei körperdysmorpher Störung. Ein Therapiemanual [mit CD-ROM]. Hogrefe, Göttingen/Bern/Stockholm/Wien/Paris/Oxford/Prag/Toronto/Cambridge, MA/Amsterdam/Kopenhagen 2009, ISBN 978-3-8017-2213-5.
  • Marilynn E. Doenges, Mary Frances Moorhouse, Alice C. Geissler-Murr: Pflegediagnosen und Maßnahmen. Hrsg.: Chris Abderhalden, Regula Ricka. 3., vollständig überarbeitete und ergänzte Auflage. Hans Huber, Bern/Göttingen/Toronto/Seattle 2002, ISBN 3-456-82960-4 (Originaltitel: Nurse’s Pocket Guide. Übersetzt von Annina Hänny).
  • Harrison G. Pope, Katherine A. Phillips, Roberto Olivardia: Der Adonis-Komplex. Schönheitswahn und Körperkult bei Männern. dtv (Taschenbuch 24249), München 2001, ISBN 3-423-24249-3.
  • Lissy Scharf: Adonis-Komplex. Körperwahrnehmung und Körperwahrnehmungsstörungen bei Männern. Bernburg 2005 (Diplomarbeit an der Hochschule Anhalt).

Einzelnachweise

  1. Enrico Morselli: Sulla dismorfofobia e sulla tafefobia. Band VI. Bollettino Accademia delle Scienze, Mediche di Genova 1886. S. 110–119.
  2. R. Olivardia, H.G. Pope Jr., J.I. Hudson: Muscle Dysmorphia in Male Weightlifters: A Case-Control Study. In: American Journal of Psychiatry, 157, 2000, S. 1291–1296.
  3. S.B. Murray, E. Rieger, S.W. Touyz, Y. De la Garza Garcia: Muscle Dysmorphia amd the DSM-V Conundrum: Where Does it belong? A Review Paper. In: International Journal of Eating Disorders, 43 (6), 2010, S. 483–491.
  4. Harrison G. Pope, Katherine A. Phillips, Roberto Olivardia: Der Adonis-Komplex. Schönheitswahn und Körperkult bei Männern. dtv, München 2001, ISBN 3-423-24249-3.
  5. C. G. Pope, H. G. Pope, W. Menard, C. Fay, R. Olivardia, K. A. Phillips: Clinical features of muscle dysmorphia among males with body dysmorphic. In: Body Image. Band 2, 2005, S. 395–400.
  6. G. Kanayama, S. Barry, J. I. Hudson, H. G. Pope Jr.: Body image and attitudes toward male roles in anabolic-androgenic steroid users. In: American Journal of Psychiatry. Band 163, 2006, S. 697–703.
  7. R. Olivardia: Mirror, Mirror on the Wall, Who’s the Largest of Them all? The Features and Phenomenology of Muscle Dysmorphia. In: Havard Rev Psychiatry, 9 (5), 2001, S. 254–259
  8. C.G. Pope, H.G. Pope, W. Menard, C. Fay, R. Olivardia, K.A. Phillips: Clinical Features of muscle dysmorphia among males with body dysmorphic disorder. In: Body Image, 2, 2005, S. 395–400.
  9. Marilynn Doenges, Mary Frances Moorhouse, Alice C. Geissler-Murr: Pflegediagnosen und Maßnahmen. 3. Auflage. Verlag Hans Huber, 2002
  10. a b Ulrike Buhlmann, Heide Glaesmer, Ricarda Mewes, Jeanne M. Fama, Sabine Wilhelm: Updates on the prevalence of body dysmorphic disorder: A population-based survey. In: Psychiatry Research. Band 178, Nr. 1, Juni 2010, S. 171–175, doi:10.1016/j.psychres.2009.05.002.
  11. David Veale, Lucinda J. Gledhill, Polyxeni Christodoulou, John Hodsoll: Body dysmorphic disorder in different settings: A systematic review and estimated weighted prevalence. In: Body Image. Band 18, September 2016, S. 168–186, doi:10.1016/j.bodyim.2016.07.003.
  12. Michele Fornaro, Filippo Gabrielli, Claudio Albano et al.: Obsessive-compulsive disorder and related disorders: a comprehensive survey. In: Annals of General Psychiatry, 2009, 8, S. 13.
  13. Francesca C. Ryding, Daria J. Kuss: The use of social networking sites, body image dissatisfaction, and body dysmorphic disorder: A systematic review of psychological research. In: Psychology of Popular Media. Band 9, Nr. 4, Oktober 2020, ISSN 2689-6575, S. 412–435, doi:10.1037/ppm0000264.
  14. Frieder Pfeiffer: Irgendwann macht es halt bumm. Spiegel Online, 20. Januar 2007. Interview mit Anabolika-Forscher Luitpold Kistler; abgerufen am 4. Februar 2009.
  15. Sabine Wilhelm et al.: Prevalence of body dysmorphic disorder in patients with anxiety disorders. In: Journal of Anxiety Disorders. Band 11, Nr. 5, 1997, S. 499–502, doi:10.1016/S0887-6185(97)00026-1
  16. Theo K. Bouman et al.: Cosmetic Professionals Awareness of Body Dysmorphic Disorder. In: Plastic & Reconstructive Surgery. Band 139, Nr. 2, 2017, S. 336–342, doi:10.1097/PRS.0000000000002962, Volltext
  17. J. Williams, T. Hadjistavropoulos, D. Sharpe: A meta-analysis of psychological and pharmacological treatments for body dysmorphic disorder. In: Behavior Res. Therapy. Band 44, 2006, S. 99–111.
  18. E. Hollander, M. R. Leibowitz, R. Winchel et al.: Treatment of body-dysmorphic disorder with serotonin uptake blockers. In: American Journal of Psychiatry. Band 146, 1989, S. 768–770.
  19. K. A. Phillips, R. S. Albertini, J. M. Siniscalchi, A. Khan, M. Robinson: Effectiveness of pharmacotherapy for body dysmorphic disorder: a chart-review study. In: Journal of Clinical Psychiatry. Band 62, 2001, S. 721–727.
  20. K. A. Phillips, RS Albertini, SA Rasmussen: A randomized placebo-controlled trial of fluoxetine in body dysmorphic disorder. In: Arch Gen Psychiatry, 59, 2002, S. 381–388.
  21. K. A. Phillips: Olanzapine augmentation of fluoxetine in body dysmorphic disorder. In: Am J Psychiatry, 162, 2005, S. 1022–1023.
  22. K. A. Phillips: Placebo-controlled study of pimozide augmentation of fluoxetine in body dysmorphic disorder. In: Am J Psychiatry. 2005 Feb;162(2), 2005, S. 377–379.
  23. K. A. Phillips: An open-label study of escitalopram in body dysmorphic disorder. In: International Clinical Psychopharmacology. Band 21, 2006, S. 177–179.