Bamberg, Staatsbibliothek, Msc.Class.55

Bamberg, Staatsbibliothek, Msc.Class.55, fol. 6r: Diverse Diagramme innerhalb der Geometria I des Pseudo-Boethius.

Die Handschrift Bamberg, Staatsbibliothek, Msc.Class.55 ist ein Kodex, bei dem es sich näher um eine sogenannte mathematisch-naturwissenschaftliche Sammelhandschrift in lateinischer Sprache handelt. Die Handschrift wurde in Reims, wohl im 10. Jahrhundert angefertigt und gelangte durch Heinrich II. nach Bamberg, wo sie bis zur Säkularisation Teil der dortigen Dombibliothek war. Heute wird sie als Teil der Kaiser-Heinrich-Bibliothek in der Staatsbibliothek Bamberg verwahrt. Sie sticht insbesondere durch ihre Diagramme hervor, die neben geometrischen Figuren unter anderem Mühl- und Grabsteine, ein Mausoleum oder ein Skelett darstellen.[1][2][3][4]

Datierungen

Hinsichtlich der genaueren Datierung der Handschrift existieren unterschiedliche Ansichten: Während Leitschuh den Kodex in das 9. Jahrhundert datierte,[5] geht die restliche Forschungsmeinung vom 10. Jahrhundert aus. So ordnet ihn Bischoff der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts zu[6], wohingegen sich Hoffmann aufgrund von übereinstimmenden Schreiberhänden (siehe unten) für das Ende des 10. Jahrhunderts ausspricht.[7]

Später erfolgte Eingriffe wie Korrekturen und Ergänzungen erfolgten im späten 10. Jahrhundert. Eine Marginalie auf fol. 40r wird in die Mitte des 11. Jahrhunderts datiert und einer deutschen Schreiberhand zugeordnet.[8] Auf fol. 1v soll die lateinische Phrase „Liber Junij Nipsi de mensuris“ Leitschuh zufolge im 16. Jahrhundert notiert worden sein.[9]

Der aktuelle Einband des Kodex stammt aus dem Jahr 1611.[10]

Beschreibung

Die Sammelhandschrift umfasst 40 Pergamentblätter mittlerer Stärke im Format 26 × 20,5 cm und zum Teil 25,8 × 21 cm. Im vorderen als auch hinteren Abschnitt befindet sich jeweils ein ungezähltes Papierblatt. Der Schriftspiegel beträgt 19 × 15 cm. Der Text ist einspaltig und zählt 27 Zeilen pro Blatt, wobei das letzte, abschließende Blatt, fol. 40r, 33 Zeilen aufweist. Die Handschrift setzt sich aus fünf Lagen zusammen. Die Lagenformel lautet: .[11][12][13]

Der Einband zeichnet sich durch zwei Metallschließen aus. Auf der letzten Seite sind am oberen Rand kreisrunde Rostflecken zu erkennen, was auf eine ehemalige Ankettung des Kodex schließen lässt.[14]

Zu den besonderen Auffälligkeiten des Pergaments zählen einerseits Randbeschnitte (Blätter 2, 8–24, 26, 29, 33–35, 37 und 39) sowie andererseits hellbraune Flecken (Blatt 25 und fol. 30r). Fol. 16v weist ausschließlich Federproben auf.[15]

Schreiberhände

Die Schrift ist eine Minuskel.[16] Hoffmann identifiziert drei Schreiberhände (A, B und C):[17]

  • Hand A: ab fol. 1r, Zeile 1–17
  • Hand B: auf fol. 1r, Zeile 18–27
  • Hand C: fol. 1v–40v

Größtenteils ist von einer einzigen Schreiberhand (hier: Schreiberhand C) auszugehen, die ebenfalls innerhalb Msc.Class.11 (dort: Schreiberhand A) von 1v–70v und Msc.Class.45 (dort: Schreiberhand B) von 2r–193rb tätig gewesen war.[18]

Hand A lässt sich auch in Msc.Class.26 (dort: ebenfalls Schreiberhand A) von fol. 1r–29v beobachten.[19]

Die drei Handschriften weisen insgesamt auffallend viele Ähnlichkeiten auf. Häufige Ligaturen von ct, rt und st werden in Msc.Class.55 jedoch eher gemieden.[20]

Ausstattung

Bamberg, Staatsbibliothek, Msc.Class.55, fol. 1v: Ornamentinitiale ‘G’ in 'GEOMETRIA'.

Die Incipits bestehen aus rubrizierten oder schwarzen Majuskeln, die gelegentlich über eine orangerote Füllung verfügen (fol. 17v, 18v und 19v). Es gibt auch einzelne Majuskeln im Textinneren (fol. 21r–24v und 39v–40v), die sich durch eine solche Füllung auszeichnen. Meistens handelt es sich jedoch um schwarze Eingangsinitialen, die Punktverdickungen aufweisen (fol. 2v). Gelegentlich tauchen neben griechischen Lemmata auch Federproben wie zum Beispiel in der Form von zwei Profilköpfen am Rand von fol. 8v auf.[21]

Eine der wenigen Ornamentinitialen, die sich auf fol. 1v befindet und das ‚G‘ in GEOMETRIA bildet, stellt eine Hohl-Majuskel in brauner Farbe dar. Ein Vogelkopf dient als oberer Abschluss, während das untere Ende durch ein Trifolium gestaltet ist. Die Höhe der Majuskel beträgt 4 cm.[22]

Diagramme

Die Diagramme erstrecken sich insgesamt über acht Seiten und befinden sich mehrheitlich im 1. Buch, also der Geometria des Pseudo-Boethius. Sie sind in brauner und schwarzer[23] Federzeichnung gestaltet und wurden durch den Randabschnitt teilweise stark in Mitleidenschaft gezogen. Die Beschriftungen sind in Capitalis rustica gestaltet. Die Blätter 3–4 weisen Schemazeichnungen zur Agrimensoren-Terminologie auf. Auf fol. 5v–6r sind Randzeichnungen verschiedener Grenzstein-Arten (teilweise aus dem Griechischen) abgebildet. Darunter befinden sich ein Obelisk, ein Grab samt Skelett, ein Mausoleum und unter anderem ein Mühlstein. Die Diagramme werden nicht dem Hauptschreiber der Handschrift zugeschrieben, sondern den Korrektur-Händen des späten 10. Jahrhunderts.[24]

Herkunft

Der Kodex stammt aus Reims in Frankreich und zählt neben Msc.Class.11, 12, 14, 24, 25, 26 und 45 zum einstigen Besitz Gerberts. Die genannten Codices können folglich demselben Skriptorium zugeordnet werden. Es wird angenommen, dass die Handschrift durch Heinrich II. ihren Weg nach Bamberg fand und im Kontext der Gründung des Bistums Bamberg in die dortige Dombibliothek gelangte.[25][26][27][28]

Inhalt

Bei dem Kodex handelt es sich um eine mathematisch-naturwissenschaftliche Sammelhandschrift, die unter anderem Auszüge aus der Geometria des Pseudo-Boethius oder der Naturalis historia des Plinius aufweist.[29]

Suckale hat eine Einteilung in sechs zusammengehörige Bücher bzw. Textsammlungen vorgenommen:[30]

Fol. Urheber Titel
1r Gerbert von Aurillac Regulae de numerorum abaci rationibus
1v–16r Pseudo-Boethius Geometria I (Exzerpte daraus)
17r–19v Plinius Naturalis Historia (Exzerpte daraus)
19v–26r keine Angaben Vier diverse mathematisch-naturwissenschaftliche Exzerpte
26r–29r Macrobius In somnium Scipionis (Exzerpte aus Kommentaren)
29r–40v keine Angaben Vier diverse mathematisch-naturwissenschaftliche Exzerpte

Die Bayerische Staatsbibliothek fasst die einzelnen Texte der Kompilation in folgende Liste zusammen:[31]

  • Gromatici
  • Opera gromatica, astronomica, historica cum excerptis ex Plinio, Macrobio, Mart. Capella, Beda aliisque
  • Opera gromatica etc.
  • Gerbert von Aurillac, Regulae de numerorum abaci rationibus
  • Pseudo-Boethius, Geometria I (Exzerpte)
  • (Jun. Nipsi vel Boethii?) Demonstratio artis geometricae et Euclides translatus
  • Plinius, Naturalis historia (Exzerpte)
  • De positione et cursu septem planetarum
  • Vier verschiedene, mathematisch-naturwissenschaftliche Exzerpte
  • Excerptum de astrologia
  • De ordine ac positione stellarum in signis
  • De ratione unciarum
  • De probatione auri et argenti
  • De mensura caerae et metalli in operibus fusilibus
  • Macrobius, In somnium Scipionis (Exzerpte aus Kommentaren)
  • Ambrosii Macrobii Theodosii de mensura et magnitudine terre et circuli per quem solis iter est
  • Item ejusdem de mensurae magnitudine solis
  • Felicis Capellae de mensura lunae
  • Eiusdem argumentum quo magnitudo terrae deprehensa est
  • De mensuris et ponderibus
  • Chronicae abbreviatio
  • De anno et partibus ejus
  • Argumentum quot horas luna in una quaque nocte luceat

Zusätzlich zu den von Leihtschuh und Suckale-Redlefsen ermittelten Autoren der einzelnen Schriften sind im Katalog der Bayerischen Staatsbibliothek noch weitere Autoren angeführt:[32]

Literatur

  • Bernhard Bischoff: Katalog der festländischen Handschriften des neunten Jahrhunderts (mit Ausnahme der wisigotischen). 1. Teil: Aachen–Lambach. Harrassowitz, Wiesbaden 1998, hier S. 49; Digitalisat.
  • Gude Suckale-Redlefsen: Die Handschriften des 8. bis 11. Jahrhunderts der Staatsbibliothek Bamberg. 1. Teil: Texte (= Katalog der illuminierten Handschriften der Staatsbibliothek Bamberg Band 1,1) Harrassowitz, Wiesbaden 2004, ISBN 3-447-05117-5, hier S. 61–62; Digitalisat.
  • Hans Fischer: Katalog der Handschriften der Königlichen Bibliothek zu Bamberg. 1. Band, 3. Abteilung: (Nachträge und Indices). Bearbeitet von Hans Fischer. Buchner, Bamberg 1908, hier S. 44; Digitalisat.
  • Hartmut Hoffmann: Bamberger Handschriften des 10. und des 11. Jahrhunderts (= MGH. Schriften Band 39). Hahn, Stuttgart 1995, ISBN 978-3-447-17213-4, hier S. 27–28, 94, 127, 135–136; Digitalisat.
  • Katalog der Handschriften der Königlichen Bibliothek zu Bamberg. 1. Band, 2. Abtheilung, [1. Lieferung]: Klassikerhandschriften. Bearbeitet von Friedrich Leitschuh, revidierter Nachdruck. Harassowitz, Wiesbaden 1966, hier S. 61–66; Digitalisat.

Einzelnachweise

  1. Siehe Suckale 2004, S. 61 f.
  2. Siehe Hoffmann 1995, S. 28, 94, 136.
  3. Siehe Fischer 1908, S. 44.
  4. Siehe Leitschuh 1966, S. 63.
  5. Siehe Leitschuh 1966, S. 61.
  6. Siehe Bischoff 1998, S. 49.
  7. Siehe Hoffmann 1995, S. 28, 136.
  8. Siehe Suckale 2004, S. 62.
  9. Siehe Leitschuh 1966, S. 62.
  10. Siehe Suckale 2004, S. 61.
  11. Siehe Suckale 2004, S. 61 f.
  12. Siehe Leitschuh 1966, S. 61, 65
  13. Siehe Hoffmann 1995, S. 136.
  14. Siehe Suckale 2004, S. 61.
  15. Siehe Suckale 2004, S. 62.
  16. Siehe Suckale 2004, S. 62.
  17. Siehe Hoffmann 1995, S. 127, 136.
  18. Siehe Hoffmann 1995, S. 127.
  19. Siehe Hoffmann 1995, S. 136.
  20. Siehe Hoffmann 1995, S. 135.
  21. Siehe Suckale 2004, S. 62.
  22. Siehe Suckale 2004, S. 62.
  23. Siehe Leitschuh 1966, S. 62.
  24. Siehe Suckale 2004, S. 62.
  25. Siehe Suckale 2004, S. 61 f.
  26. Siehe Leitschuh 1966, S. 61.
  27. Siehe Hoffmann 1995, S. 28 94.
  28. Siehe Fischer 1908, S. 44.
  29. Siehe Suckale 2004, S. 61 f.
  30. Siehe Suckale 2004, S. 62.
  31. Bayerische Staatsbibliothek: Mathematisch-naturwissenschaftliche Sammelhandschrift - Staatsbibliothek Bamberg Msc.Class.55. In: Bibliothekskatalog der Bayerischen Staatsbibliothek. Abgerufen am 20. Mai 2024.
  32. Bayerische Staatsbibliothek: Mathematisch-naturwissenschaftliche Sammelhandschrift - Staatsbibliothek Bamberg Msc.Class.55. In: Bibliothekskatalog der Bayerischen Staatsbibliothek. Abgerufen am 1. August 2024.