Wolfgang Herrndorf

Wolfgang Herrndorf (2011)

Wolfgang Otto Georg Herrndorf[1] (* 12. Juni 1965 in Hamburg; † 26. August 2013 in Berlin) war ein deutscher Schriftsteller, Maler, Illustrator und Karikaturist.

Leben

Jugend und Studium

Wolfgang Herrndorf wurde als Sohn des Sport- und Geschichtslehrers Christian Herrndorf und dessen Frau Karin (genannt Katrin), geb. Franz, einer Tanzlehrerin, in Hamburg geboren.[2] Bei seiner Geburt gab es Komplikationen, sodass er als Baby einen kompletten Blutaustausch erhielt.[1] Herrndorf wuchs in den Norderstedter Stadtteilen Garstedt und Glashütte auf. Schon früh interessierte er sich für die Malerei und zeichnete selber. Er gab auch schon als Grundschüler eine Zeitung heraus, die ZfS (Zeitung für Schwachsinnige). Ab 1975 besuchte Herrndorf das Coppernicus-Gymnasium in Norderstedt. Er war ein guter Schüler, besonders in den Naturwissenschaften. 1984 absolvierte er das Abitur als Jahrgangsbester mit dem Notendurchschnitt 1,5. Nach seinem Abitur leistete Herrndorf Zivildienst in einer evangelischen Gemeinde und absolvierte ein Pflichtpraktikum in einer Druckerei.[3][4]

Von 1986 bis 1992 studierte Herrndorf Malerei an der Akademie der Bildenden Künste Nürnberg. Er malte in dieser Zeit stark inspiriert von der Renaissance und dem Barock. Zu seinen Vorbildern gehörten Dürer und Vermeer. Außerdem benutzte er alte Techniken, wie etwa die Lasurmalerei. All dies war in der Nürnberger Akademie nicht in Mode. Mehrfach führte dieser Umstand zu Konflikten mit anderen Studierenden, ganz besonders aber mit seiner Kunstprofessorin. Noch viele Jahre später schreibt Herrndorf in Arbeit und Struktur, sie sei „die schlimmste, menschlich unangenehmste Person“, die ihm in seinem Leben begegnet sei.[5][6]

Nach dem Studium in Nürnberg

Nach seinem Studium, das Herrndorf als Meisterschüler beendete, arbeitete er für mehrere Jahre bei der Deutschen Post. Er lebte in prekären Verhältnissen, gab für Kleidung wenig Geld aus und arbeitete viel zu Hause: ein Lebensstil, den er zeit seines Lebens beibehielt. 1994 schickte er eine umfangreiche Mappe mit Comics, Cartoons, Illustrationen und weiteren an das Magazin Titanic, das er selbst seit dem 16. Lebensjahr gelesen hat. Im Oktober 1994 wurde sein erster Cartoon abgedruckt, eine Illustration zur Rubrik „Humorkritik“. Es folgten mehrere weitere Beiträge in den Jahren 1995 und 1996. Herrndorf war ein Multitalent und entwickelte sich schnell zur „Geheim- und Allzweckwaffe für die Redaktion“. Oliver Maria Schmitt, damaliger Chefredakteur der Titanic:

„[…] er konnte schlechterdings alles: Kolumnen illustrieren, Witze machen, erratische doppelseitige Gemälde hinzaubern, sodass man sich in Frankfurt darum stritt, wer als Erster die neue Herrndorf-Lieferung begutachten durfte.“

Oliver Maria Schmitt: Wolfgang Herrndorf: Was mich interessiert, kann ich nicht malen[7]

Neben der Titanic steuerte Herrndorf auch einige Zeichnungen zum Eulenspiegel bei.[8]

Jahre in Berlin

Wolfgang Herrndorf (erste Reihe, zweiter von links) beim Training der Autoren-Fußballnationalmannschaft (2007)

Im August 1996 zog Herrndorf in eine Mietwohnung nach Berlin-Neukölln, ein Jahr später zog er in die Novalisstraße um. Er illustrierte Bücher für den Haffmans Verlag. Längerfristige Kooperationen erfolgten mit Jürgen Roth und Gerhard Henschel, mit denen Herrndorf in mehreren Projekten (auch für andere Verlage) zusammenarbeitete. Außerdem zeichnete Herrndorf für verschiedene Zeitungen, etwa den Tagesspiegel und die taz. In Berlin knüpfte er viele wichtige Lebens- und Arbeitsbeziehungen, etwa zu Kathrin Passig, Per Leo oder Holm Friebe. Für Friebes Fanzine Luke & Trooke steuerte er einige Cartoons bei. 1999 erschien Herrndorfs erster publizistischer Text in der taz; insgesamt hat er drei taz-Texte verfasst.[9] Auf Anregung seiner Lektorin arbeitete Herrndorf auch an literarischen Texten. Sein erster erschien unter dem Titel Scham & Ekel GmbH 2001 im Raben, einer Literaturzeitschrift des Haffmans Verlags. Der Wechsel vom Maler zum Autor erfolgte um 2002.[10][11]

Grabstätte mit Grabstein und Metallkreuz (2016)
Metallkreuz am Berliner Nordufer an der mutmaßlichen Stelle von Herrndorfs Suizid (2022)

Ab 2001 schrieb Herrndorf regelmäßig im Internetforum Wir höflichen Paparazzi, dem als „Hinterland und Resonanzraum für sein Schreiben“ großer Einfluss auf ihn zugeschrieben wird.[12] Herrndorf, der hauptsächlich unter dem Pseudonym Stimmen schrieb, gehörte einer Gruppe im Forum an, die sich „die Pappen“ nannten und sich schnell vom eigentlichen Thema des Forums emanzipierten. Außerdem beteiligte er sich mit Beiträgen am Weblog Riesenmaschine und war Mitglied der Zentrale Intelligenz Agentur sowie mehrfacher Gast der sog. Bunny-Lectures, ironische Informationsabende, an deren Konzeption er ebenfalls beteiligt war.[13]

Herrndorf war Mitglied der Autoren-Fußballnationalmannschaft Autonama.

Nachdem bei ihm im Februar 2010 ein bösartiger Hirntumor (Glioblastom) festgestellt worden war, begann Herrndorf ein digitales Tagebuch, den Blog Arbeit und Struktur, in dem er über sein Leben mit der tödlichen Krankheit berichtete. Es erschien posthum im Dezember 2013 bei Rowohlt in Buchform, wie es sich der Autor gewünscht hatte.[14] Herrndorf arbeitete nach der Diagnose intensiv an neuen Buchprojekten, die er unbedingt noch fertigstellen wollte.[15] In seinen letzten drei Lebensjahren litt er unter epileptischen Anfällen.[16]

Herrndorf beging am 26. August 2013 in Berlin Suizid.[17][18][19] An der mutmaßlichen Stelle seines Todes in der Nähe des Strandbads Plötzensee wurde ein Metallkreuz aufgestellt (52° 32′ 52,5″ N, 13° 19′ 5,3″ O), wie Herrndorf es in Arbeit und Struktur beschrieb.[20][21] Herrndorf wurde auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin beigesetzt (Abt. 7-2-7). Auf seiner Grabstätte stand zunächst ein weiteres Metallkreuz. Nach Fertigstellung des Grabsteins wurde es entfernt. Der Revolver, mit dem sich Herrndorf das Leben nahm, liegt seit 2016 im Deutschen Literaturarchiv Marbach.[22]

Privates

Im Mai 2013 heiratete Herrndorf die Kinderbuchautorin Carola Wimmer, mit der er zuvor mehrere Jahre liiert gewesen war.[23]

Literarisches Werk

Wolfgang Herrndorf (2004)

2002 erschien Herrndorfs Debütroman In Plüschgewittern im Zweitausendeins-Verlag, bei dem es sich – obwohl der Protagonist knapp 30-jährig ist – laut Autor um einen „Adoleszenzroman“[24] handelt. Herrndorfs Biograph Tobias Rüther sieht Herrndorfs Erstlingswerk geprägt durch Krachts Faserland, die Popliteratur, aber auch die Romantik. Auffällig seien auch explizit autobiographische Anteile: Herrndorf verewige nicht nur eine Menge seiner Freunde in Figuren, sondern baue auch explizit persönliche Erfahrungen in die Handlung mit ein. Die Kritik reagierte auf den Roman überwiegend positiv, er wurde allerdings kein Verkaufserfolg.[25] Später wurde er der Popliteratur zugeordnet. Eine überarbeitete Fassung von In Plüschgewittern erschien 2008 als Taschenbuch im Rowohlt Verlag.

2004 las Herrndorf auf Einladung des Jurors Klaus Nüchtern bei der Verleihung des Ingeborg-Bachmann-Preises, wo er den Kelag-Publikumspreis erhielt.[26] 2007 brachte der Eichborn Verlag unter dem Titel Diesseits des Van-Allen-Gürtels eine Reihe zusammengehöriger Kurzgeschichten Herrndorfs heraus, darunter auch die Geschichte, die Herrndorf beim Bachmann-Preis gelesen hatte. Im selben Jahr erschien im SuKuLTuR-Verlag ein von Herrndorf erfundenes Interview mit einem (nicht vollkommen vertrauenswürdigen) Kosmonauten, das Science-Fiction-Elemente enthält. Der unzuverlässige Erzähler ist ein wiederkehrendes Element in Herrndorfs Prosa, das auf den Einfluss Vladimir Nabokovs zurückgeht.[27]

Sein großer schriftstellerischer Erfolg begann 2010 mit der Veröffentlichung von Tschick im Rowohlt Berlin Verlag, einem Bildungsroman, dessen Protagonisten etwa 14 Jahre alt sind. Das Buch stand über ein Jahr lang auf der deutschen Bestsellerliste.[28] Im November 2011 erschien der Roman Sand, der Merkmale des Kriminalromans, des Gesellschaftsromans und des historischen Romans vereinigt.[29] Laut Herrndorf wäre es auch möglich, Sand dem „Genre des Trottelromans“[30] zuzuordnen. Nachdem 2011 bereits Tschick für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert gewesen war, wurde Herrndorf dieser Preis 2012 für Sand zugesprochen.[31] Den Preis nahm in Vertretung sein Freund Robert Koall entgegen. Im selben Jahr gelangte Sand auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises.

Werk als Maler und Illustrator

Ein von Herrndorf für die Titanic gemaltes Bild des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl im Stil von Vermeer erlangte 1996 Bekanntheit und wurde als Plakat verkauft.[32] 1997 erschien im Haffmans Verlag der Wandkalender Klassiker Kohl 1998 mit zwölf Porträts Kohls im Stil berühmter Maler wie Cranach, Magritte und Baselitz. Kohl wurde der Kalender auf der Frankfurter Buchmesse gezeigt.[33] In Kooperation mit dem Schriftsteller Jürgen Roth veröffentlichte Herrndorf 1998 das Buch Heribert Fassbender – Gesammelte Werke. Band IX/5: Europameisterschaft 1996, Italien–Deutschland, für das Herrndorf die Illustrationen anfertigte.

Seit 2015 sind Herrndorfs Bilder in Ausstellungen im Literaturhaus Berlin und Literaturhaus München sowie im Kunsthaus Stade gezeigt worden. Herrndorfs Witwe Carola Wimmer war an der Werkauswahl beteiligt.[34]

Posthume Veröffentlichungen und Rezeption

2014 veröffentlichte Rowohlt die Fortsetzung von Tschick aus der Sicht von Isa als unvollendeten Roman unter dem Titel Bilder deiner großen Liebe. Im Nachwort von Kathrin Passig und Marcus Gärtner heißt es, Herrndorf habe selbst noch der Veröffentlichung zugestimmt und auch den Titel selbst festgelegt. Unter der Regie von Jan Gehlers wurde das Buch 2015 am Staatsschauspiel Dresden als Theaterstück uraufgeführt.[35] Der Bayerische Rundfunk produzierte 2019 ein Hörspiel aus Herrndorfs letztem Text Bilder deiner großen Liebe, der Vorgeschichte zum Roman Tschick.[36]

Bücher

Ausstellungen

Auszeichnungen

Literatur

Commons: Wolfgang Herrndorf – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise und Anmerkungen

  1. a b Tobias Rüther: Herrndorf. Eine Biographie. Rowohlt Berlin, Berlin 2023, S. 23.
  2. Tobias Rüther: Herrndorf. Eine Biographie. Rowohlt Berlin, Berlin 2023, S. 10.
  3. Tobias Rüther: Herrndorf. Eine Biographie. Rowohlt Berlin, Berlin 2023, S. 14, 25–28, 34.
  4. Frank Knittermeier: Pastor predigt über Wolfgang Herrndorf und „Tschick“. In: abendblatt.de. Funke Medien Hamburg GmbH, 10. Januar 2014, abgerufen am 4. Dezember 2019.
  5. Tobias Rüther: Herrndorf. Eine Biographe. Rowohlt Berlin, Berlin 2023, S. 35, 41–43, 51–53.
  6. Arbeit und Struktur: Dreiunddreißig. In: wolfgang-herrndorf.de. Abgerufen am 21. August 2023.
  7. Oliver Maria Schmitt: Was mich interessiert, kann ich nicht malen. In: Zeit.de. 15. Juni 2015, abgerufen am 22. August 2023.
  8. Tobias Rüther: Herrndorf. Eine Biographie. Rowohlt Berlin, Berlin 2023, S. 74–77, 82–87, 93.
  9. Artikel von ‘Wolfgang Herrndorf’. In: taz.de. Abgerufen am 23. August 2023.
  10. Tobias Rüther: Herrndorf. Eine Biographie. Rowohlt Berlin, Berlin 2023, S. 93, 120, 124–125, 129–132, 151–154.
  11. Die Kunst des Wolfgang Herrndorf. In: Zeit Magazin. Nr. 21/2015.
  12. Holm Friebe: Der Mann, der aus der Welt gefallen ist. In: welt.de. 2. September 2013, abgerufen am 7. Februar 2016.
  13. Tobias Rüther: Herrndorf. Eine Biographie. Rowohlt Berlin, Berlin, S. 180–185.
  14. Wolfgang Herrndorfs Blog soll als Buch erscheinen. In: Stern. 29. August 2013, abgerufen am 22. August 2023.
  15. Tobias Rüther: Herrndorf. Eine Biographie. Rowohlt Berlin, Berlin 2023, S. 266–269, 301.
  16. Tobias Rüther: Herrndorf. Eine Biographie. Rowohlt Berlin, Berlin 2023, S. 338–340.
  17. Sebastian Hammelehle: Wolfgang Herrndorf ist tot. In: Der Spiegel. 27. August 2013, abgerufen am 13. August 2023.
  18. Wolfgang Herrndorf verstorben. In: rowohlt.de. Rowohlt Verlag, 27. August 2013, archiviert vom Original am 11. Dezember 2014; abgerufen am 13. August 2023.
  19. Die mit Herrndorf befreundete Autorin Kathrin Passig teilte bereits vor der Bestätigung durch die Medien per Twitter mit, dass Herrndorf Suizid begangen habe; vgl. Twitter-Mitteilung von Kathrin Passig, 27. August 2013, 13.55 Uhr. Dies wurde auch als Schlusseintrag in Herrndorfs Blog Arbeit und Struktur übernommen.
  20. Gerrit Bartels: Eine schöne Stelle zum Sterben. In: tagesspiegel.de. 24. Juli 2016, abgerufen am 19. Juni 2022.
  21. Troels Andersen: Schreiben fürs Leben und gegen den Tod. In: ZfL Nachbarschaften. 24. September 2021, abgerufen am 24. September 2021.
  22. Julia Encke: Herrndorfs Revolver. In: faz.net. 13. April 2016, abgerufen am 24. September 2021.
  23. Tobias Rüther: Herrndorf. Eine Biographie. Rowohlt Berlin, Berlin 2023, S. 364.
  24. Interview mit Wolfgang Herrndorf (PDF; 92 kB) (Memento vom 28. Februar 2013 im Internet Archive)
  25. Tobias Rüther: Herrndorf. Eine Biographie. Rowohlt Berlin, Berlin, S. 162, 174–178, 187–189.
  26. Preisträger 2004. In: Bachmannpreis orf.at Archiv. Abgerufen am 16. November 2021.
  27. Wolfgang Schneider: »Ich bin kein Bohemien«. In: Börsenblatt 174, Heft 10 (8. März 2006), S. 35 f.
  28. Platzierungen von Tschik auf Bestsellerliste (Memento vom 25. November 2011 im Internet Archive) bei buchreport.
  29. Andrea Hanna Hünniger: Die Wüste ist ein sinnloser Ort. In: Die Zeit. 22. November 2011.
  30. Kathrin Passig: Wann hat es Tschick gemacht, Herr Herrndorf? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 31. Januar 2011.
  31. Florian Diekmann: Wolfgang Herrndorf erhält Leipziger Buchpreis. In: Spiegel Online. 15. März 2012.
  32. Oliver Maria Schmitt: Wolfgang Herrndorf: Herrndorf wurde zur Allzweckwaffe für die „Titanic“-Redaktion. In: Die Zeit. 11. Juni 2015, ISSN 0044-2070 (zeit.de [abgerufen am 4. Dezember 2019]).
  33. Kunst – Der Meister aller Meister. In: freitag.de. Abgerufen am 4. Dezember 2019.
  34. Zitate – Literaturhaus München. In: literaturhaus-muenchen.de. Abgerufen am 7. Dezember 2019.
  35. Bilder deiner großen Liebe. Staatsschauspiel Dresden, archiviert vom Original am 28. September 2016; abgerufen am 28. September 2016.
  36. Hörspiel Pool – „Bilder deiner großen Liebe“ von Wolfgang Herrndorf. In: br.de. Bayerischer Rundfunk, abgerufen am 19. März 2019.
  37. Literaturhaus München (Memento vom 22. Juni 2016 im Internet Archive)
  38. Literaturhaus Berlin (Memento vom 26. August 2016 im Internet Archive)
  39. Lob für Wolfgang Herrndorf – Website des Bachmann-Preises (Memento vom 2. März 2014 im Internet Archive)