Vertrag von Saint-Germain
Der Vertrag von Saint-Germain (vollständig: Staatsvertrag von Saint-Germain-en-Laye) regelte nach dem Ersten Weltkrieg die Auflösung der österreichischen Reichshälfte (die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder) Österreich-Ungarns und die Bedingungen für die neue Republik Deutschösterreich. Der Vertrag von Trianon regelte die Situation Ungarns, des anderen Teilstaates der vormaligen Doppelmonarchie. Der am 2. September 1919 den österreichischen Delegierten übergebene Vertrag wurde am 10. September 1919 im Schloss Saint-Germain-en-Laye unterzeichnet. Am 16. Juli 1920 trat er förmlich in Kraft und bestätigte die Auflösung Österreich-Ungarns auch völkerrechtlich.
Der Vertrag ist einer der Pariser Vorortverträge, die den Ersten Weltkrieg formal beendeten, und wurde zwischen Österreich und 27 alliierten und assoziierten Mitgliedern abgeschlossen. Zu den Signatarmächten zählten neben Österreich die USA, Großbritannien (mit seinen Dominions Irland, Kanada, Australien, Neuseeland und Indien), Frankreich, Italien und Japan sowie Belgien, Bolivien, Brasilien, China, Kuba, Ecuador, Griechenland, Guatemala, Haiti, Hedschas, Honduras, Liberia, Nicaragua, Panama, Peru, Polen, Portugal, Rumänien, der serbisch-kroatisch-slowenische Staat, Siam, die Tschechoslowakei und Uruguay. Dies waren die Gründungsmitglieder des Völkerbundes.
Im Mai 1919 reiste eine österreichische Delegation unter der Leitung von Karl Renner nach Saint-Germain-en-Laye. Eine direkte Teilnahme an den Gesprächen wurde ihr verweigert, sie konnte lediglich schriftliche Vorschläge unterbreiten.[1]
Bestimmungen
Die wichtigsten Bestimmungen der 381 Artikel des Vertrages von Saint-Germain sind:
Kriegsschuldfrage
Österreich und seinen Verbündeten wurde in Art. 177 die Kriegsschuld auferlegt. Als Urheber sollten sie für die Verluste und Schäden verantwortlich sein, die die alliierten und assoziierten Regierungen und ihre Staatsangehörigen infolge des ihnen durch den Angriff Österreich-Ungarns und seiner Verbündeten aufgezwungenen Krieges erlitten hatten. Der Vertrag von Saint-Germain entsprach in diesen Artikeln dem Versailler Vertrag (Art. 231 ff. VV). In der Folge leistete Österreich jedoch anders als das Deutsche Reich angesichts seiner wirtschaftlichen Situation keine Reparationen. Es kam nicht einmal zur Festsetzung eines konkreten Betrages; die Forderung selbst wurde 1929 erlassen.[2] Auch Ungarn wurden im Vertrag von Trianon Reparationen auferlegt.
Territoriale Bestimmungen
- Böhmen, Mähren, Österreichisch-Schlesien und einige Gemeinden Niederösterreichs (u. a. Feldsberg, der Bahnhof Gmünd und Gebietsgewinne andere Gemeinden) gehen an die neu gegründete Tschechoslowakei, das Selbstbestimmungsrecht der deutschsprachigen Bevölkerung im Sudetenland (Deutschböhmen und Deutschmährer), die im Oktober 1918 die eigenständigen Provinzen Deutschböhmen und Sudetenland gegründet hatten, findet dabei keine Berücksichtigung.
- Galizien geht an Polen.
- Südtirol, Welschtirol, das Kanaltal und Istrien gehen an Italien.[3] Dabei verlief die neue Grenze in Tirol teilweise durch Gebiete einzelner Gemeinden.[4]
- Die Bukowina geht an Rumänien.
- Dalmatien, Krain, Teile der Untersteiermark sowie das Kärntner Mießtal und das Seeland gehen an das neue Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen.
- Über Südkärnten ist eine Volksabstimmung darüber, ob es künftig zu Österreich oder zu Jugoslawien gehören möchte, durchzuführen.
- Deutsch-Westungarn geht an Österreich und erhält den Namen Burgenland (der Name rührt von den vier Komitaten Wieselburg, Eisenburg, Ödenburg und Pressburg her, aus deren Teilen das Burgenland gebildet wird).
- Ein Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich sowie die Verwendung des Staatsnamens „Deutschösterreich“ werden verboten.
Nach Abtrennung dieser Gebiete blieb von Österreich (Cisleithanien) ein Reststaat von etwa 6,5 Millionen Einwohnern.
Weitere Bestimmungen
- Für die Nachfolgestaaten der österreichisch-ungarischen Monarchie wurde ein Optionsrecht der Einwohner nach Rasse und Sprache vereinbart.[5]
- Aktive Minderheitenrechte: Neben dem Verbot von Diskriminierung Recht auf die Errichtung eigener gesellschaftlicher und sozialer Einrichtungen und Schulen mit Unterricht in der Minderheitssprache sowie angemessene Zuteilung öffentlicher Budgetmittel für Erziehungs-, Religions- und Wohltätigkeitseinrichtungen verbindlich als Grundgesetz (Verfassungsgesetz). Noch heute bilden diese Bestimmungen eine Säule des österreichischen Volksgruppenrechts.[6]
- Österreich musste auf die Ausübung der Konsulargerichtsbarkeit verzichten.[7]
- Eine allgemeine Wehrpflicht wird verboten. Es wird nur ein Berufsheer von 30.000 Mann erlaubt. Rüstungsfabriken und Waffen müssen zerstört werden.
- Die Gründung des Völkerbunds und der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), beides Schritte, welche den Vertrag bzw. die gesamten Pariser Vorortverträge von vorhergehenden Friedensverträgen deutlich unterscheiden.
Protest
Die Konstituierende Nationalversammlung protestierte am 6. September 1919 öffentlich gegen den Vertragstext, der dem deutschösterreichischen Volk das Selbstbestimmungsrecht und den „Herzenswunsch“, die „wirtschaftliche, kulturelle und politische Lebensnotwendigkeit“ verweigere: die „Vereinigung mit dem deutschen Mutterlande“.[8] Man hoffe auf eine zukünftig mögliche Vereinigung, das Recht auf Einheit und Freiheit der Nation; 3,5 Millionen Deutschösterreichern werde nun eine „Fremdherrschaft“ auferlegt. Die Verantwortung für die zukünftigen Wirren liege bei dem „Gewissen jener Mächte, die trotz der Warnungen den Vertrag vollziehen werden“. Die wirtschaftlichen und finanziellen Bedingungen seien „undurchführbar“ und „politisch verhängnisvoll“.
Originaldokument
Anlässlich des 90-jährigen Jubiläums der Republik Österreich hätte das Original des Vertrags von Saint-Germain in Wien ausgestellt werden sollen. Die nach der Unterzeichnung in Frankreich aufbewahrten Originale konnten in den französischen Archiven aber nicht mehr aufgefunden werden. Im Zweiten Weltkrieg war der Vertrag nach Berlin gebracht und dort ausgestellt worden. Wahrscheinlich wurde er bei einem Bombenangriff zerstört.[9]
Gedenken
Seit 2018 besteht der Wanderweg Grenzlandgalerie zwischen Österreich und Slowenien.
Siehe auch
Literatur
- Isabella Ackerl, Rudolf Neck (Hrsg.): Saint-Germain 1919. Protokoll des Symposiums am 29. und 30. Mai 1979 in Wien. Verlag für Geschichte und Politik, Wien 1989, ISBN 3-7028-0276-2.
- Manfred Alexander: Deutschland, Italien und die Tschechoslowakei in der Zwischenkriegszeit. In: Bohemia. Band 38, Nr. 1, 1997, S. 56–65.
- Fritz Fellner: Vom Dreibund zum Völkerbund. Studien zur Geschichte der internationalen Beziehungen 1882–1919. R. Oldenbourg Verlag, München 1994, ISBN 3-486-56091-3.
- Herbert Kalb, Thomas Olechowski, Anita Ziegerhofer (Hrsg.): Der Vertrag von St. Germain. Kommentar. Manz, Wien 2021, ISBN 978-3-214-02042-2 (univie.ac.at).
- Lajos Kerekes: Von St. Germain bis Genf. Österreich und seine Nachbarn 1918–1922. Akadémiai Kiadó, Budapest 1979, ISBN 963-05-1373-0.
- Jörn Leonhard: Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918–1923. Verlag C.H. Beck, München 2018, ISBN 978-3-406-72506-7.
- Margaret MacMillan: Die Friedensmacher. Wie der Versailler Vertrag die Welt veränderte. Propyläen, Berlin 2015, ISBN 978-3-549-07459-6.
- Carlo Moos: Die deutschösterreichische Friedensdelegation und der Staatsvertrag von St. Germain. In: ders. (Hrsg.): Habsburg post mortem. Wien u. a. 2016, S. 23–44.
- Carlo Moos: Südtirol im St. Germain-Kontext. In: Georg Grote, Hannes Obermair (Hrsg.): A Land on the Treshold. South Tyrolean Transformations, 1915–2015. Peter Lang, Oxford-Bern-New York 2017, ISBN 978-3-0343-2240-9, S. 27–39.
- Christian Pippan: Die völkerrechtlichen Konsequenzen des Vertrages von St. Germain. In: BRGÖ. 2019, S. 498–516 (austriaca.at [PDF]).
- Jürgen Pirker: Die völkerrechtliche Bedeutung des Vertrages von Saint-Germain-en-Laye im Lichte der österreichischtschechoslowakischen Beziehungen. In: BRGÖ. 2020, S. 239–252, doi:10.1553/BRGOE2022-2s239 (austriaca.at [PDF]).
- Andreas Raffeiner (Hrsg.): 100 Jahre Staatsvertrag von St. Germain – Der Rest ist Österreich! Facultas, Wien 2020, ISBN 978-3-7089-2033-7.
- Hans-Jürgen Schröder: Woodrow Wilson und der Vertrag von St. Germain 1919–1920. In: Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs. 2019, S. 332–351., doi:10.1553/BRGOE2019-2s332.
- Arnold Suppan: The Imperialist Peace Order in Central Europe: Saint Germain and Trianon 1919–1920. Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 2019, ISBN 978-3-7001-8363-1.
- Machteld Venken: The dissolution of the Austro-Hungarian Monarchy: border making and its consequences. In: European Review of History: Revue européenne d’histoire. Band 27, Nr. 6, 2020, S. 697–708, doi:10.1080/13507486.2020.1828837 (englisch).
Weblinks
- Text im Rechtsinformationssystem RIS, Kunsttext einschließlich aller bis 1934 erfolgten Änderungen.
- Ein Scan samt maschinell eingelesener Transkription des gesamten Vertrags der zweisprachigen Ausgabe von 1919 in der Digitalen Landesbibliothek Oberösterreich enthält auch die sehr lange Begleitnote zu den Friedensbedingungen vom 2. September 1919.
- Unterzeichnung des Vertrages St. Germain in der österreichischen Presse (Österreichische Nationalbibliothek)
- Vertrag von Saint-Germain – Südtirol-Jubiläum: Hundert Jahre Grenzerfahrung, Online-Artikel auf Der Standard vom 20. Oktober 2019, abgerufen am 31. Oktober 2023.
- Andreas Oplatka: Bei der Zergliederung von Österreich-Ungarn standen die Einzelwünsche der Sieger im Zentrum. In: Neue Zürcher Zeitung. 16. Januar 2020 (nzz.ch).
Einzelnachweise
- ↑ Georg Wagner (Hrsg.): Österreich. Von der Staatsidee zum Nationalbewusstsein. Studien und Ansprachen, mit einem Bildteil zur Geschichte Österreichs. Verlag der Österreichischen Staatsdruckerei, Wien 1982, ISBN 3-7046-0017-2, S. 337.
- ↑ Laura Rathmanner: Die Reparationskommission nach dem Staatsvertrag von St. Germain BRGÖ 2016, S. 74–98.
- ↑ Carlo Moos: Südtirol im St. Germain-Kontext. In: Georg Grote, Hannes Obermair (Hrsg.): A Land on the Treshold. South Tyrolean Transformations, 1915–2015. Peter Lang, Oxford-Bern-New York 2017, ISBN 978-3-0343-2240-9, S. 27–39.
- ↑ Rundschau. I. Gesetzentwürfe.: Juristische Blätter / Juristische Blätter. Eine Wochenschrift / Juristische Blätter vereinigt mit Gerichts-Zeitung, Jahrgang 1924, S. 30 (online bei ANNO).
- ↑ Hannelore Burger: Heimatrecht und Staatsbürgerschaft Österreichischer Juden. Böhlau, Wien 2013, ISBN 978-3-205-79495-0, S. 137.
- ↑ Manfred Matzka: Saint-Germain und die Minderheitenrechte, in Wiener Zeitung, 10. September 2019. Online
- ↑ Oesterreichische Konsulargerichte in Aegypten. In: Neues Wiener Journal, 16. Oktober 1929, S. 3 (online bei ANNO).
- ↑ Beschluss der Nationalversammlung vom 6. September 1919, in: Bericht über die Tätigkeit der deutschösterreichischen Friedensdelegation in St-Germain-en-Laye. Band 2, S. 628–631.
- ↑ Vertrag von St. Germain verschwunden. In: ORF.at, 11. November 2008.