Verein für Socialpolitik

Verein für Socialpolitik
(VfS)
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Rechtsform eingetragener Verein
Gründung 1873
Sitz Berlin
Zweck Förderung von Wissenschaft und Forschung
Vorsitz Regina T. Riphahn
Mitglieder 3800
Website www.socialpolitik.de

Der Verein für Socialpolitik (VfS) ist eine ökonomische Vereinigung im deutschen Sprachraum. Er hat seinen Sitz in Berlin. Zurzeit hat er etwa 4000 persönliche und 34 korporative Mitglieder. Der Verein gibt zwei Fachzeitschriften (German Economic Review und Perspektiven der Wirtschaftspolitik) heraus.

Er befasst sich in seinen 24 ständigen Fachausschüssen mit verschiedensten wirtschaftswissenschaftlichen Fragestellungen. Seit 2023 ist Regina T. Riphahn Vorsitzende des Vereins.[1]

Geschichte

Der Verein wurde 1873 gegründet, erster Vorsitzender war Rudolf von Gneist, der im Folgejahr vom bisherigen Stellvertreter Erwin Nasse abgelöst wurde.[2] Adolf Held war ab 1873 Sekretär. Dem Verein gehörten Ökonomen wie Gustav von Schmoller (Vorsitzender 1890–1917), Adolf Wagner und Lujo Brentano an.

Im Zusammenhang mit dem großen Aufschwung Preußens und Deutschlands entstand eine neue Schule der Volkswirtschaftslehre, die auf historisch-psychologischem Boden eine Brücke zwischen den Manchesterliberalen und den sozialrevolutionären Ideen des aufkommenden Sozialismus zu finden suchte. Die revolutionäre Agitation eines Ferdinand Lassalle oder Karl Marx schienen ihnen ebenso ungeeignet wie die Laissez-faire Politik der Liberalen, um die Lage der Arbeiter zu verbessern. Die Historische Schule schuf sich in der Bildung des Vereins für Socialpolitik eine Verfassung und beeinflusste immer mehr durch ihre Schriftenpublikation das öffentliche Interesse in Deutschland und darüber hinaus.

Heinrich Bernhard Oppenheim prägte für die Mitglieder den Begriff der „Kathedersozialisten“, um sie als Vertreter eines anti-liberalen Staatsinterventionismus zu brandmarken. Laut Gustav v. Schmoller wollten er und die Mitglieder „auf der Grundlage der bestehenden Ordnung die unteren Klassen soweit heben, bilden und versöhnen, dass sie in Harmonie und Frieden sich in den Organismus einfügen“. Zu der damaligen Zeit der Gewerbefreiheit waren die Rechte der Arbeiter minimal und ihre Behandlung vielfach menschenunwürdig. Zudem hatten die Arbeiter bis zur Bildung des Sozialversicherungswesens in den 1880er Jahren (das wilhelminische Deutschland galt als Pioniernation der modernen Sozialpolitik) kaum eine Absicherung gegen Arbeitsunfähigkeit, Krankheit oder Arbeitslosigkeit und schwere Verletzungen und Tod am Arbeitsplatz gehörten damals vielfach zum Arbeitsalltag.

Die Lehre der Historischen Schule fand schnell öffentliches Interesse auch über Deutschland hinaus; so in den englischen Fabiern und der nordamerikanischen Academy of Political and Social Science. Ihre wissenschaftlichen Arbeiten über soziale Angelegenheiten haben nicht bloß eine große Wirkung auf die damals heranwachsende Generation, sondern auch auf die deutsche Politik, speziell auf Otto von Bismarck ausgeübt. Die Vertreter dieser Schule haben die deutschen Staatswissenschaften von 1860 bis 1914 maßgeblich beeinflusst und auf ein viel breiteres Fundament als die rein mathematische Analyse der klassischen Volkswirtschaftslehre gestellt.

Der Verein war allerdings selbst keine Organisation der Arbeiterbewegung, nur ausnahmsweise konnten bei ihm etwa Gewerkschaftsfunktionäre selbst zu Wort kommen und ihre Positionen darlegen. Kein Interesse bestand an der Meinung von Sozialdemokraten und sozialdemokratischen Gewerkschaftern, welche zu der damaligen Zeit eine stark sozialistische Ausrichtung hatten. Nach schweren inneren Auseinandersetzungen entwickelte sich der sozialpolitische „Agitationsverein“ zu einer politisch neutralen, fachübergreifenden Gesellschaft fort. 1936 löste sich der Verein selbst auf, um der Gleichschaltung zu entgehen. 1948 wurde er wiedergegründet.

Kontroversen

2012 organisierte der heute im Netzwerk Plurale Ökonomik aufgegangene Arbeitskreis Real World Economics um Helge Peukert und Christoph Freydorf eine Gegenveranstaltung zur VfS-Tagung in Göttingen. Das mehrtägige Parallelprogramm bot Platz für die Forschungsrichtungen und Forscher, die nach Ansicht der Organisatoren ansonsten ausgegrenzt würden.[3][4][5] Dazu formulierten sie einen offenen Brief an den Verein für Socialpolitik, in dem sie „Theorienvielfalt statt geistiger Monokultur“, „Methodenvielfalt statt angewandter Mathematik“ und „Selbstreflexion statt unhinterfragter, normativer Annahmen“ forderten.[6] Der Vereinsvorsitzende Michael Burda erwiderte den Brief im August 2013.[7] Arne Heise kommentierte Burdas Brief im Handelsblatt: „Von kritischer Selbstreflexion in Anbetracht des Scheiterns an der Wirklichkeit ist nichts zu sehen.“[8]

2015 kam es zum Rückschritt in der Debatte,[9] der Dialog scheiterte und so „ließ der VfS die Unzufriedenen wieder außen vor“,[10] weshalb erneut eine „unerbetene“[11] Gegenveranstaltung organisiert wurde. Helge Peukert erklärte als Ziel der Pluralistischen Ergänzungstagung[12] „aufzuzeigen, dass es genug ernsthafte ökonomische Ansätze jenseits des Mainstreams gibt und dass genug Platz vorhanden wäre, um bei der offiziellen Jahrestagung mehr Pluralität zuzulassen.“[13] Als beispielhaft wurde die Tagung der amerikanischen Allied Social Sciences Association genannt, bei der alle wirtschaftswissenschaftlichen Strömungen „ihr eigenes Programm organisieren“[14] dürfen.[11][10] Dennis Snower, der für den VfS eine „Plurale Session“ organisiert hatte, befürwortete eine gemeinsame Tagung, um die Perspektive zu erweitern.[15] Der Verein wies den Vorwurf der wissenschaftlichen Ausgrenzung[16] zurück.[17][18] Ein VfS-Vorstandsmitglied legte seinen Eindruck dar, „dass es da mehr um eine politische Agenda geht als um eine konstruktive Diskussion über Lehrinhalte.“[10] In der Süddeutschen wurde kritisiert, der Verein weigere sich, „eine echte Debatte“ zu führen.[10] Auf den folgenden Jahrestagungen (2017, 2018) wurde dem Netzwerk Plurale Ökonomik angeboten, sich mit einem eigenen Programmpunkt auf der jährlichen Vereinstagung zu präsentieren, um einen konstruktiven Austausch in der Debatte zu ermöglichen.

Aktivitäten

Jahrestagungen

Die vom Verein für Socialpolitik jährlich durchgeführten Tagungen mit bis zu 800 Teilnehmern gehören zu den größten und meistbeachteten wirtschaftswissenschaftlichen Fachkonferenzen in Europa. Im offenen Tagungsteil gibt es bis zu 450 Vorträge aus allen Teilgebieten der Wirtschaftswissenschaften.

Nachwuchsförderung

Der Verein für Socialpolitik fördert die internationale Präsenz junger Wissenschaftler aus dem Bereich der Wirtschaftswissenschaften mit einer Prämie für Vorträge auf angesehenen internationalen Konferenzen.

Zudem zeichnet der Verein gemeinsam mit der Joachim Herz Stiftung deutschlandweit Schüler mit dem „VfS-Abiturpreis“ aus, die auf dem Gebiet der Wirtschaftswissenschaften im Rahmen ihrer Abiturprüfungen eine hervorragende Leistung erzielt haben.

Frauenförderung

Forscherinnen im Bereich der Wirtschaftswissenschaften sind in Berufungsverfahren, bei Tagungen, auf Panel-Diskussionen und in Entscheidungsgremien noch immer stark unterrepräsentiert. Um dem entgegenzuwirken, hat der Verein für Socialpolitik eine öffentlich zugängliche Namensliste[19] von Forscherinnen im Bereich der VWL und in verwandten Gebieten erstellt. Wirtschaftswissenschaftlerinnen, die im deutschsprachigen Raum tätig sind, promoviert haben und im wissenschaftlichen Bereich arbeiten, können sich in diese Liste eintragen lassen. Neben dem Namen, der akademischen Stellung und der Affiliation kann die Datenbank auch nach Forschungsfeldern sortiert werden. Dadurch kann die interessierte Öffentlichkeit aus dem akademischen, medialen oder politischen Umfeld genau die Expertin finden, die sie zu einem bestimmten Forschungsgebiet sucht.

Evidenzbasierte Wirtschaftspolitik

Der Verein für Socialpolitik ist für den Einsatz einer evidenzbasierten Wirtschaftspolitik. Er unterstützt eine Wirtschaftspolitik auf der Grundlage kausaler Wirkungsanalysen von wirtschaftspolitischen Maßnahmen mit Hilfe empirischer (Evaluations-)Studien. Der Verein hat Leitlinien für ex-post Wirkungsanalysen erstellt.

Preise

Der Verein vergibt jährlich die folgenden Auszeichnungen:

  • Gossen-Preis für einen Wirtschaftswissenschaftler aus dem deutschen Sprachraum, der/die mit seinen Arbeiten internationales Ansehen gewonnen hat. Der Preis wird an Wissenschaftler verliehen, die zum Zeitpunkt der Preisverleihung das 45. Lebensjahr noch nicht vollendet haben.
  • Gustav-Stolper-Preis für hervorragende Wissenschaftler, die mit Erkenntnissen wirtschaftswissenschaftlicher Forschung die öffentliche Diskussion über wirtschaftliche Zusammenhänge und Probleme beeinflusst und wichtige Beiträge zum Verständnis und zur Lösung ökonomischer Probleme geleistet haben.
  • Reinhard-Selten-Preis (Young Author Best Paper Award) für Beiträge, die sich insbesondere durch Originalität, Bedeutung der Fragestellung und saubere Methodik auszeichnen. Der Preis wird an Autoren verliehen, die unter 32 Jahren sind.
  • Carl-Menger-Preis „für innovative, internationale Forschungsleistungen auf den Gebieten der monetären Makroökonomie, Geldpolitik und Währungspolitik“.

Vereinsvorsitzende

Vorsitzende des Vereins für Socialpolitik
Zeitraum Vorsitzender
1872–1874 Rudolf von Gneist
1874–1890 Erwin Nasse
1890–1917 Gustav von Schmoller
1917–1930 Heinrich Herkner
1930–1932 Christian Eckert
1932–1935 Werner Sombart
1935–1936 Constantin von Dietze
1949–1954 Gerhard Albrecht
1955–1958 Walther G. Hoffmann
1959–1962 Fritz Neumark
1963–1966 Erich Schneider
1967–1970 Helmut Arndt
1971–1974 Hans Karl Schneider
1975–1978 Wilhelm Krelle
1979–1982 Helmut Hesse
1983–1986 Ernst Helmstädter
1987–1990 Gernot Gutmann
1991–1994 Heinz König
1995–1996 Erhard Kantzenbach
1997–2000 Hans-Werner Sinn
2001–2004 Martin Hellwig
2005–2008 Friedrich Schneider
2009–2011 Lars-Hendrik Röller
2011–2014 Michael C. Burda
2015–2016 Monika Schnitzer
2017–2018 Achim Wambach
2019–2020 Nicola Fuchs-Schündeln
2021–2022 Georg Weizsäcker
2023–2024 Regina T. Riphahn

Weitere bekannte Mitglieder

Literatur und Quellen

  • Das Archiv des Vereins für Socialpolitik wird im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen Abteilung Rheinland verwahrt.
  • Franz Boese: Geschichte des Vereins für Sozialpolitik, 1872-1932. Duncker & Humblot, Berlin 1939.
  • Dieter Lindenlaub: Richtungskämpfe im Verein für Sozialpolitik: Wissenschaft und Socialpolitik im Kaiserreich vornehmlich vom Beginn des 'Neuen Kurses’ bis zum Ausbruch des 1. Weltkrieges (1890–1914). Franz Steiner Verlag, Stuttgart 1967.
  • Steven Leon McClellan, German Economists and the Intersection of Science and Politics: A History of the Verein für Sozialpolitik, 1872-1972. Ph.D. Dissertation, Department of History, University Toronto 2022.

Einzelnachweise

  1. Engerer Vorstand. Abgerufen am 17. Februar 2021.
  2. Zur Gründungsgeschichte vgl. Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, I. Abteilung: Von der Reichsgründungszeit bis zur Kaiserlichen Sozialbotschaft (1867–1881), 8. Band: Grundfragen der Sozialpolitik in der öffentlichen Diskussion: Kirchen, Parteien, Vereine und Verbände, bearbeitet von Ralf Stremmel, Florian Tennstedt und Gisela Fleckenstein, Darmstadt 2006, Nr. 46–103, Nr. 106–120, Nr. 122–124.
  3. Erste Pluralistische Ergänzungsveranstaltung zur VfS Jahrestagung 2012 in Göttingen (Memento vom 2. Mai 2016 im Internet Archive), Netzwerk Plurale Ökonomik, abgerufen am 3. Februar 2015.
  4. Norbert Häring, Hans Christian Müller-Dröge: Verein für Socialpolitik: Wenn Ökonomen aufeinanderprallen (Memento vom 14. Juli 2016 im Internet Archive), Handelsblatt, 13. September 2012.
  5. Olaf Storbeck: Paralleltagung: Kritische Ökonomen unter sich (Memento vom 3. Juni 2016 im Internet Archive). In: Handelsblatt, 7. September 2012.
  6. Offener Brief, Netzwerk Plurale Ökonomik, abgerufen am 3. Februar 2015.
  7. Michael Burda: Brief an Thomas Dürmeier (Memento vom 18. November 2018 im Internet Archive) (PDF) 9. August 2013.
  8. Burda lässt die Kritik kalt. Handelsblatt, 19. August 2013.
  9. Johannes Pennekamp: Mainstream-Ökonomie: Wettstreit der Ideen. faz.net, 2. September 2015
  10. a b c d Jan Willmroth: Wirtschaftswissenschaften: Zwei Welten. Süddeutsche Zeitung, 9. September 2015.
  11. a b Sebastian Puschner: Wie bei St. Pauli und Bayern München. Der Freitag, 9. September 2015
  12. 2. pluralistische Ergänzungsveranstaltung zur Jahrestagung des Vereins für Socialpolitik. (Memento vom 4. März 2016 im Internet Archive) Webseite des Netzwerks Plurale Ökonomik, abgerufen am 12. September 2015.
  13. Pluralismus, den ich meine – Über die Verfechter der herrschenden Lehre und die Vorkämpfer einer neuen Vielfalt. In: Handelsblatt, 24. August 2015, S. 11.
  14. Bert Losse: Lisa Großmann vom Netzwerk Plurale Ökonomik: „Wir sind nicht erwünscht“. Wirtschaftswoche, 27. August 2015.
  15. Norbert Häring: Ökonom Dennis Snower: „Emotionen werden vernachlässigt“, Handelsblatt, 9. September 2015.
  16. Die gespaltene Zukunft – warum der traditionsreichste deutsche Ökonomen-Club so polarisiert. Wirtschaftswoche, 14. August 2015, S. 33.
  17. Bert Losse: Zoff im Ökonomen-Lager: Ist die VWL verbohrt? Wirtschaftswoche, 14. August 2015.
  18. „Es geht darum, dass es den Menschen besser geht“. Interview mit Monika Schnitzer. faz.net, 8. September 2015.
  19. Forscherinnen in der VWL. Abgerufen am 17. Februar 2021 (deutsch).