Plurizentrische Sprache

Eine plurizentrische Sprache oder eine polyzentrische[1][2] Sprache ist in der synchronen Linguistik eine Sprache mit mehreren regionalen Zentren der Standardisierung und dementsprechend mehreren Standardvarietäten. Das Sprachgebiet einer plurizentrischen Sprache erstreckt sich meist, aber nicht immer, über Staatsgrenzen hinaus.

Hintergrund

Plurizentrisch bedeutet, dass eine sprachhistorisch „zusammengehörige“ Einzelsprache in unterschiedlichen Standards, die sich Zentren zuordnen lassen, untergliedert wird.[3] In den meisten Fällen sind diese Zentren Nationalstaaten zugeordnet (z. B. Amerikanisches Englisch und Australisches Englisch). Doch es gibt auch, neben sogenannten „Vollzentren“ (z. B. Österreich für Österreichisches Deutsch) die Idee von „Halbzentren“ (z. B. Südtiroler Deutsch) oder „Viertelzentren“ (z. B. Luxemburger Deutsch).[4]

Das Konzept geht im Wesentlichen auf die Germanisten Heinz Kloss und Michael Clyne[5] zurück, obwohl der Begriff von William Stewart zuerst im Englischen eingeführt wurde, dort aber bis etwa 2015 so gut wie keine Verwendung fand.

Clyne, der als Pionier der Erforschung plurizentrischer Sprachen gilt, schreibt dazu: „Plurizentrische Sprachen vereinen Sprecher durch den Gebrauch der Sprache, und gleichzeitig trennen sie Sprecher durch die Entwicklung von nationalen Normen und Indizierungen und linguistischen Variablen mit denen sich nur eine Untergruppe von Sprechern identifiziert“.[3]

Beispiele plurizentrischer Sprachen

Beispiele plurizentrischer Sprachen sind Arabisch, Armenisch, Hochchinesisch, Deutsch, Englisch, Französisch, Hindi-Urdu (Hindustani), Italienisch, Koreanisch, Malaiisch, Niederländisch, Portugiesisch, Schwedisch, Serbokroatisch, Spanisch, Tamilisch und pazifisches Pidgin-Englisch (Tok Pisin, Bislama, Pijin und Torres Creole).[6] Selbst eine so kleine Sprache wie das Karpato-Russinische verfügt in der Slowakei, der Ukraine, Ungarn und Polen über vier deutlich voneinander unterschiedene Standardvarietäten. Weitere Beispiele sind Inuktitut, Kurdisch, Panjabi, Persisch, Rumänisch, Sesotho und Swahili.

Heute nicht mehr gesprochene plurizentrische Sprachen sind z. B. das unter dem Einfluss der einzelnen Volkssprachen differenzierte Latein des Mittelalters und der frühen Neuzeit, das Kirchenslawische mit seinen „Redaktionen“ oder das Sanskrit, das in verschiedenen Regionen Indiens mit verschiedenen Schriften geschrieben wird.

Das Hebräische ist in gewisser Hinsicht ebenfalls eine plurizentrische Sprache, und zwar nicht in Bezug auf Wortschatz oder Grammatik, sondern in Bezug auf die Aussprache im synagogalen Gottesdienst. Israelis aus unterschiedlichen Kulturkreisen (Aschkenasim, Sfaradim, Temanim usw.) pflegen in der synagogalen Liturgie unterschiedliche Ausspracheweisen des Hebräischen. Die modernhebräische Aussprache basiert jedoch auf der traditionell sephardischen Aussprache, mit gewissen aschkenasischen Elementen.

Englisch

Englisch ist eine plurizentrische Sprache mit deutlichen Unterschieden in Phonologie und Orthographie. Die Varietät mit der größten Zahl an Muttersprachlern ist amerikanisches Englisch. Ebenfalls größere Anteile haben britisches, kanadisches und australisches Englisch. Es gibt zahlreiche Länder, die unter der Herrschaft anglophoner Staaten standen und das Englische als Amts- oder Verkehrssprachen übernahmen.

Das Englische wird üblicherweise als symmetrischer Fall einer plurizentrischen Sprache betrachtet, denn keine dieser Varietäten hat eine klare kulturelle Dominanz.

Deutsch

Varietäten des Standarddeutschen

Im Gegensatz zum Englischen wird Deutsch oft als asymmetrischer Fall einer plurizentrischen Sprache betrachtet, da das Standarddeutsche aus Deutschland häufig als dominierend empfunden wird. Dies liegt einerseits an der großen Sprecherzahl, aber auch daran, dass die Varietäten im deutschen Sprachraum vielfach nicht als solche wahrgenommen werden. Zusätzlich werden die verschiedenen Standardvarietäten, auch jene der Vollzentren Österreich und Schweiz, fälschlicherweise als regionale Abweichungen aufgefasst.[7]

Obwohl es eine einheitliche Bühnensprache gibt, ist die im öffentlichen Raum verwendete Sprache uneinheitlich: Das Standarddeutsche, jeweils als Hochdeutsch bezeichnet, das in Massenmedien, Schulen und Politik verwendet wird, ist im deutschen Sprachraum manchmal sehr verschieden. Die verschiedenen Varietäten des Standarddeutschen unterscheiden sich in den deutschen Dialekträumen in der Phonologie, dem Wortschatz und in wenigen Fällen in der Grammatik und der Orthographie. Sie sind bis zu einem gewissen Grad beeinflusst von den jeweiligen regionalen Basisdialekten (siehe auch deutsches Dialektkontinuum), von verschiedenen kulturellen Traditionen (beispielsweise die Bezeichnungen für viele Lebensmittel) sowie von verschiedenen Termini in Gesetzgebung und Verwaltung, die in der Regel durch den Staat vorgegeben sind (z. B. Bankomatkarte (Ö), EC-Karte (D) oder Bundesheer (Ö), Bundeswehr (D) und Armee (CH)).

Eine Liste deutscher Wörter, die vornehmlich in Österreich (sowie fallweise in Bayern) für bestimmte Nahrungsmittel verwendet werden, ist auf Wunsch der Republik Österreich ins Europarecht aufgenommen worden. Es gibt aber auch andere Wörter, die ausschließlich regional im deutschsprachigen Raum verwendet werden.

Siehe auch:

Begriffsgeschichte der Nationalvarietäten des Deutschen

Erste Ansätze zu einer übergreifenden Darstellung der Nationalvarietäten des Deutschen sind im Werk Wortgeographie der deutschen Umgangssprache des aus Berlin stammenden Wieners Paul Kretschmer aus dem Jahre 1918 zu sehen.[8] Mit den Arbeiten von Hugo Moser (besonders 1959) begann das sprachgeschichtliche Studium der Besonderheiten der deutschen Standardsprache außerhalb Deutschlands. Er ersetzte auch den obsolet gewordenen Begriff Reichsdeutsch durch Binnendeutsch, welcher auch von österreichischen und schweizerischen Sprachwissenschaftlern übernommen wurde. Moser verwendete auch die Begriffe „Außengebiete der deutschen Hochsprache“ (Österreich, Schweiz und dt. Minderheiten in anderen Ländern) und „Hauptvariante Bundesrepublik“. Aus dieser Perspektive erscheinen alle nichtdeutschländischen Nationalvarietäten als zweitrangig und werden mit Regionalismen beziehungsweise Minderheitendeutsch in anderen Ländern auf eine Stufe gestellt. Auch bezeichnete Moser DDR-Deutsch als „abweichend“, „uneigentliches“ und BRD-Deutsch als das unverändert „eigentliche“ Deutsch.[9]

Verschiedene Autoren wurden durch Hugo Moser angeregt, lexikographische Zusammenstellungen von „Besonderheiten“ der deutschen Standardsprache in den Nachbarländern Deutschlands herauszugeben. Sie verwendeten wie die Dudenredaktion auch noch heute deutschlandzentrierte beziehungsweise hochsprachenzentrierte Markierungen. Die sprachpolitisch engagierte und soziolinguistisch orientierte Erforschung der vom „Binnendeutsch“ dominierten anderen Nationalvarietäten begann ebenfalls nach dem Zweiten Weltkrieg und verstärkte sich sowohl in Österreich wie in der Schweiz seit den 1970er Jahren. Ab Ende der 1970er begann eine übergreifende, alle großen Nationalvarietäten gleichstellende Erörterung des Problems. Mit Kritik an der „Binnendeutsch“- und „Besonderheiten“-Perspektive wurde dabei auch der Begriff „nationale Variante des Deutschen“ für das österreichische Deutsch andiskutiert, neben „westdeutsche/ostdeutsche Varietät“ als „staatliche Varietäten“.[9] Von Polenz bezeichnet die Ansicht, Deutsch sei monozentristisch, 1987 als überwunden.[10] Sie wirkt aber noch immer nach, beispielsweise im Duden, welcher nur Austriazismen, Helvetizismen und in Deutschland nur sehr regionale Varianten extra kennzeichnet. Teutonismen werden somit oft als allgemeingültig angesehen.

Ab den 1950er Jahren wurde unabhängig voneinander vor allem in der Sowjetunion, den USA und Australien der Problembereich der Nationalvarietäten aufgearbeitet, wobei mit Englisch, Französisch und Spanisch begonnen wurde. Die 1934 aus Wien ausgewanderte Germanistin Elise Riesel begann ab 1953 den Begriff „nationale Variante“ auf Österreich, Deutschland und die Schweiz anzuwenden. Von daher wurde in der DDR seit 1974 der Begriff „nationale Variante“ auch für DDR-Deutsch und BRD-Deutsch postuliert, was nicht unwidersprochen blieb. Im Westen wurde durch Heinz Kloss ab 1952 der Ansatz „plurizentristische Sprache“ angeregt, der wiederum den Begriff vom US-amerikanischen Soziolinguisten William A. Stewart übernommen hat. Dieser Begriff wurde 1984 in noch sehr offener Verbindung mit dem östlichen Begriff Nationalvarietät durch den australischen Germanisten Michael Clyne in die germanistische Linguistik eingeführt und auf einer Deutschlehrertagung 1986 in Bern unpolemisch erörtert und einer breiten Öffentlichkeit vermittelt. Clyne entwickelte in Zusammenhang mit dem geplanten Wachsen der EU den Begriff NV-emanzipatorisch weiter im Hinblick auf die neue Rolle von Deutsch, speziell auch des österreichischen, als internationale Verkehrssprache im sich südostwärts erweiternden neuen Europa.

Die erste umfassende Monographie über Nationalvarietäten des Deutschen wurde von Ulrich Ammon 1995 veröffentlicht, wo er den Begriff „plurizentristisch“ im Sinne von „plurinational“ verwendete.[9]

Hochchinesisch

Hochchinesisch ist ein weiteres Beispiel für eine asymmetrische plurizentrische Sprache. Dabei sind nicht die manchmal so genannten „Chinesischen Sprachen“ (chinesisch 方言, Pinyin fāngyán) gemeint, die eigentlich verschiedene Einzelsprachen sind, sondern die verschiedenen Varietäten des Mandarin. Deren Standarddefinitionen sind zwar sehr ähnlich oder nahezu identisch, doch es bestehen erhebliche Unterschiede, vor allem im Wortschatz, in geringerem Maße in der Aussprache und Grammatik, teilweise auch in der Schrift.

Am chinesischen Festland wird das Hochchinesische als Pǔtōnghuà普通话 („allgemeine Umgangssprache“) bezeichnet und basiert nach offizieller Definition in der Aussprache auf dem Dialekt von Peking, in der Grammatik auf den „hervorragenden literarischen Werken in nordchinesischer Umgangssprache“.

Detaillierte, präskriptive Beschreibungen dieses Standards (Wörterbücher) schreiben jedoch auch in der Aussprache gewisse Abweichungen vom Peking-Dialekt vor, insbesondere bei unbetonten Silben; das im Wortschatz des Peking-Dialekt sehr stark vertretene „r-Suffix“ („Érhuà-Phänomen“) wird in der Standardsprache deutlich weniger verwendet. Die grammatische Norm ist überregional und nordchinesisch geprägt.

Die Behörden auf Taiwan bezeichnen das Hochchinesische als Guóyǔ國語 („Nationalsprache“). Der Standard ist gleich definiert wie auf dem Festland, doch durch die politische Trennung haben sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Unterschiede entwickelt. Die einheimische Bevölkerung spricht vor allem einen südchinesischen Dialekt und verwendet die Standardaussprache im Alltag nicht korrekt. Im Vergleich zum Standard auf dem Festland gibt es auch in der genormten Aussprache im Rundfunk etc. deutlich weniger unbetonte Silben.

In Singapur und Malaysia wird Hochchinesisch Huáyǔ华语 („chinesische Sprache“) genannt. Die Unterschiede zum Sprachgebrauch in China bestehen vor allem im Wortschatz. Hochchinesisch ist die Muttersprache eines ganz kleinen Teils der Bevölkerung von Singapur und Malaysia. Chinesischstämmige Bewohner Singapurs und Malaysias sprechen vor allem Kantonesisch, Hakka und Minnanhua als Muttersprachen.

In Hongkong und Macau dominiert Kantonesisch, Yuèyǔ粵語 („Yue-Sprache“), mündlich auch im amtlichen Gebrauch. Die Schriftsprache ist im Wesentlichen Hochchinesisch, wenn auch im Wortschatz zum Teil deutlich vom Kantonesischen beeinflusst.

Die chinesische Schrift wurde in der Volksrepublik China in den 1960er Jahren amtlich reformiert und vereinfacht. Die zweite Stufe der Reform Ende 1977 kam offiziell nicht aus dem Entwurfsstadium hinaus. Nach Diskussionen und deutlicher Kritik aus der Bevölkerung wurde die zweite Stufe im Sommer 1986 von den Behörden gestoppt und ad acta gelegt. In Hongkong und Macau sowie in Taiwan werden weiterhin die traditionellen, nicht-vereinfachten Schriftzeichen verwendet. Singapur hat die vereinfachten Schriftzeichen Festlandchinas übernommen.

Literatur

  • Ulrich Ammon, Hans Bickel, Alexandra N. Lenz u. a.: Variantenwörterbuch des Deutschen. Die Standardsprache in Österreich, der Schweiz, Deutschland, Liechtenstein, Luxemburg, Ostbelgien und Südtirol sowie Rumänien, Namibia und Mennonitensiedlungen. 2., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Walter de Gruyter, Berlin 2016, ISBN 978-3-11-024543-1.
  • Michael Clyne: Pluricentric languages. Differing norms in different nations. Berlin/New York 1992.
  • Stefan Dollinger: The Pluricentricity Debate: on Austrian German and other Germanic Standard Varieties. Routledge, Abingdon 2019, ISBN 978-0-367-72884-7. (online ch. 1 & ch. 9)
  • Snježana Kordić: Nationale Varietäten der serbokroatischen Sprache. In: Biljana Golubović, Jochen Raecke (Hrsg.): Bosnisch – Kroatisch – Serbisch als Fremdsprachen an den Universitäten der Welt (= Die Welt der Slaven, Sammelbände – Sborniki). Band 31. Sagner, München 2008, ISBN 978-3-86688-032-0, S. 93–102 (bib.irb.hr [PDF; 1,3 MB; abgerufen am 7. Juni 2010]).
  • Snježana Kordić: Plurizentrische Sprachen, Ausbausprachen, Abstandsprachen und die Serbokroatistik. In: Zeitschrift für Balkanologie. Band 45, Nr. 2, 2009, ISSN 0044-2356, S. 210–215 (online [abgerufen am 2. April 2013]).
  • Rudolf Muhr (Hrsg.): Standardvariationen und Sprachauffassungen in verschiedenen Sprachkulturen. In: Trans, Internetzeitschrift für Kulturwissenschaften, Nr. 15, 2004.
Wiktionary: plurizentrische Sprache – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Quellen

  1. William A. Stewart: A Sociolinguistic Typology for Describing National Multilingualism. In: Joshua Fishman (Hrsg.): Readings in the Sociology of Language. Mouton, The Hague, Paris 1968, OCLC 306499, S. 534.
  2. Heinz Kloss: Abstandsprachen und Ausbausprachen. In: Joachim Göschel, Norbert Nail, Gaston van der Elst (Hrsg.): Zur Theorie des Dialekts. Aufsätze aus 100 Jahren Forschung (= Zeitschrift für Dialektologie and Linguistik, Beihefte). n.F., Heft 16. F. Steiner, Wiesbaden 1976, OCLC 2598722, S. 310–312.
  3. a b Michael G. Clyne: Pluricentric languages - introduction. In: Pluricentric Languages. Mouton, Berlin 1992, S. 1: „They unify people through the use of the language and separate them through the development of national norms and indices and linguistic variables with which the speakers identify.“
  4. Ulrich Ammon (Hrsg.): Variantenwörterbuch. de Gruyter, Berlin 2004.
  5. Michael G. Clyne: The German Language in a Changing Europe. Cambridge University Press, Cambridge 1995.
  6. Michael Clyne: Pluricentric languages. Differing norms in different nations. Berlin/New York 1992.
  7. Anna-Julia Lingg: Kriterien zur Unterscheidung von Austriazismen, Helvetismen und Teutonismen. In: Christa Dürscheid, Martin Businger (Hrsg.): Schweizer Standarddeutsch: Beiträge zur Varietätenlinguistik. Gunter Narr Verlag, 2006, ISBN 3-8233-6225-9, S. 23 ff.
  8. Ulrich Ammon: Die deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz: das Problem der nationalen Varietät. Berlin/New York 1995, S. 35 ff.
  9. a b c Peter von Polenz: Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. Walter de Gruyter, 2000, ISBN 3-11-014344-5, S. 419 ff.
  10. Polenz 1987, S. 101.