Perfekt im Deutschen
Als Perfekt (lateinisch [tempus] [praeteritum] perfectum âvollendete Zeitformâ), auch vollendete Gegenwart (Praesens perfectum)[1][2] oder Vorgegenwart,[3][4] in neueren Grammatiken auch PrĂ€sensperfekt genannt,[5] wird in der deutschen Grammatik ein Tempus eines Verbs bezeichnet, das vollendete Handlungen und VorgĂ€nge ausdrĂŒckt. Als Vorzeitigkeitstempus drĂŒckt es im VerhĂ€ltnis zum PrĂ€sens das zuvor Geschehene aus. In den deutschen Dialekten sĂŒdlich des Mains und zunehmend in der Umgangssprache ĂŒberhaupt, so auch in Film und Fernsehen, dient es als Ersatzform fĂŒr das PrĂ€teritum, um generell abgeschlossene Handlungen auszudrĂŒcken.[6] Es wird deshalb auch zweite Vergangenheit (kurz â2. Vergangenheitâ)[7] genannt.
Im Gegensatz zur deutschen Sprache drĂŒckt im Lateinischen das Perfekt als temporales Perfekt Handlungen der Vergangenheit aus und dient dabei als ErzĂ€hltempus. In anderen indogermanischen Sprachen entsprechen als Perfekt bezeichnete Verbformen allerdings als Verbalaspekt Ă€hnlich wie das deutsche Perfekt dem perfektischen Aspekt (Resultativ).
Bildung des Perfekts im Deutschen
Das deutsche Perfekt wird analytisch gebildet, es ist eine zusammengesetzte Verbform aus der Personalform der Hilfsverben âhabenâ oder âseinâ und dem aussagenden Verb. Das Hilfsverb wird im PrĂ€sens konjugiert. Das aussagende Verb steht in der Regel im Partizip II und ist daher in jeder Person gleich. Bei Modalverben wird es jedoch im Infinitiv gebraucht.
Perfekt mit âhabenâ oder âseinâ
Im Deutschen wird das Perfekt der ĂŒberwiegenden Anzahl von Verben mit dem Hilfsverb âhabenâ gebildet, unter anderem bei allen transitiven Verben im Aktiv sowie bei reflexiven bzw. reflexiv gebrauchten Verben.
Mit dem Hilfsverb âseinâ wird das Perfekt einer Gruppe von intransitiven oder intransitiv benutzten Verben gebildet, die eine OrtsĂ€nderung (âvon A nach Bâ: kommen, gehen, fahren, springen âŠ) ausdrĂŒcken. Diese Verben werden als Bewegungsverben bezeichnet. Beispiel: âIch bin mit dem Auto gefahrenâ â aber: âIch habe dich gefahren.â Auch eine Gruppe von Verben, die eine ZustandsĂ€nderung (Ăbergang von einem Zustand in einen anderen) ausdrĂŒcken (aufwachen, sterben, verwelken), bilden das Perfekt mit âseinâ. AuĂerdem bilden die Verben sein, werden und bleiben das Perfekt mit âseinâ. Bei den transitiven Verben im Passiv wird das Perfekt ebenfalls mit âseinâ in Verbindung mit der Partizipform âwordenâ gebildet.
Regionale Unterschiede gibt es bei der Bildung des Perfekts von Verben der Position (stehen, sitzen, liegen etc.) â im nördlichen Teil Deutschlands mit âhabenâ gebildet, in Ăsterreich, der Schweiz und weiten Teilen SĂŒddeutschlands jedoch mit âseinâ (ich bin gestanden, er ist gesessen). Beides gilt als korrekt. FĂŒr ĂŒbertragene Wortbedeutungen (âer hat gesessenâ = âer war im GefĂ€ngnisâ) werden die Formen mit âhabenâ im sĂŒddeutschen Sprachraum jedoch manchmal ebenfalls benutzt.
Beispiele fĂŒr die Konjugation
âarbeitenâ (Aktiv)
- ich habe gearbeitet = vor fĂŒnf Minuten habe ich gearbeitet
- du hast gearbeitet = vor fĂŒnf Minuten hast du gearbeitet
- er/sie/es hat gearbeitet = vor fĂŒnf Minuten hat er/sie/es gearbeitet
- wir haben gearbeitet = vor fĂŒnf Minuten haben wir gearbeitet
- ihr habt gearbeitet = vor fĂŒnf Minuten habt ihr gearbeitet
- sie haben gearbeitet = vor fĂŒnf Minuten haben sie gearbeitet
- Infinitiv Perfekt Aktiv: gearbeitet haben
âgesucht werdenâ (Passiv)
- ich bin gesucht worden
- du bist gesucht worden
- er/sie/es ist gesucht worden
- wir sind gesucht worden
- ihr seid gesucht worden
- sie sind gesucht worden
- Infinitiv Perfekt Passiv: gesucht worden sein
âgehenâ (Aktiv)
- ich bin gegangen = vor fĂŒnf Minuten bin ich gegangen
- du bist gegangen = vor fĂŒnf Minuten bist du gegangen
- er/sie/es ist gegangen = vor fĂŒnf Minuten ist er/sie/es gegangen
- wir sind gegangen = vor fĂŒnf Minuten sind wir gegangen
- ihr seid gegangen = vor fĂŒnf Minuten seid ihr gegangen
- sie sind gegangen = vor fĂŒnf Minuten sind sie gegangen
- Infinitiv Perfekt: gegangen sein
Funktion und Gebrauch des Perfekts im Deutschen
Die Perfektform wird im Deutschen in unterschiedlicher Bedeutung verwendet:
- als Vorzeitigkeitstempus im VerhÀltnis zum PrÀsens (PrÀsensperfekt);
- als ErzÀhl- oder Berichtsmodus eines abgeschlossenen Geschehens (statt des PrÀteritums);
Das Perfekt als Tempus der gegenwartsbezogenen Vergangenheit (PrÀsensperfekt)
Das Perfekt wird fĂŒr Sachverhalte verwandt, die (relativ zur Betrachtzeit) in der Vergangenheit abgeschlossen wurden, deren Ergebnis oder Folge aber noch relevant sind.[8] Der Gegenwartsbezug in den folgenden Beispielen unterscheidet das Perfekt vom PrĂ€teritum.
- Beispiele:
- Der KlĂ€ger hat den Antrag ⊠gestellt. (Und ĂŒber diesen ist jetzt im Urteil zu entscheiden.)
- Die Kollegin hat sich beim Skifahren ein Bein gebrochen. (Und trÀgt noch einen Gipsverband.)
- Es hat geregnet. (Und die Wiese ist noch nass.)
Die Duden-Grammatik spricht von PrÀsensperfekt.[9]
Da das PrĂ€sens im Deutschen auch zum Ausdruck zukĂŒnftiger Sachverhalte benutzt werden kann, ergibt sich, dass der Bezug eines PrĂ€sensperfekts ebenfalls in die Zukunft verschoben sein kann. Die Konstruktion ist dann gleichbedeutend mit einem Futur II, d. h. bezeichnet eine Situation, die zu einem bestimmten zukĂŒnftigen Zeitpunkt als abgeschlossen dargestellt wird:
- Beispiele:
- In zwei Monaten macht sie ihre letzte PrĂŒfung = âIn zwei Monaten wird sie ihre letzte PrĂŒfung machenâ
- und entsprechend:
- In zwei Monaten hat sie ihre letzte PrĂŒfung gemacht = âIn zwei Monaten wird sie ihre letzte PrĂŒfung gemacht habenâ
In derselben Weise erklĂ€rt sich das Plusquamperfekt als eine Verschiebung der betrachteten Zeit in die Vergangenheit, ausgedrĂŒckt durch die Vergangenheitsform des Hilfsverbs haben bzw. sein. Von diesem Zeitpunkt aus wird dann eine Situation als noch frĂŒher abgeschlossen dargestellt:
- Beispiele
- Vor zwei Monaten hat sie ihre letzte PrĂŒfung gemacht (RĂŒckblick von der Gegenwart aus)
- Zwei Monate zuvor hatte sie ihre letzte PrĂŒfung gemacht (RĂŒckblick von einem vergangenen Zeitpunkt aus).
Die Verwendung des Perfekts als sogenanntes âPrĂ€sensperfektâ ist daher kein deiktisches Tempus, das an den Zeitpunkt der SprecherĂ€uĂerung geknĂŒpft ist, sondern eine relative Zeitangabe, die eher als Aspekt zu klassifizieren ist, da dieser seinerseits noch in verschiedener Weise mit der Sprechzeit in Beziehung gesetzt wird.[10]
Das Perfekt als Vergangenheitstempus (im MĂŒndlichen/Dialektalen)
Das Perfekt stellt im gesprochenen Deutsch die herrschende Verbform fĂŒr die Beschreibung von Vergangenem dar, z. B. im Satz âIch habe gegessenâ. Im Schweizerdeutschen und anderen oberdeutschen sowie einigen westmitteldeutschen Dialekten gibt es aufgrund des oberdeutschen PrĂ€teritumschwundes fast oder ĂŒberhaupt keine Formen fĂŒr das PrĂ€teritum. Das Perfekt wird hier grundsĂ€tzlich als Ersatz fĂŒr das PrĂ€teritum verwendet. Die Grenze dieses SprachphĂ€nomens lĂ€sst sich dabei teilweise sehr exakt bestimmen; sie folgt teilweise der Mainlinie und verlĂ€uft von Hof im Osten bis nach Aachen im Westen. Diese Entwicklung ist im SĂŒden des deutschen Sprachraums bereits im 16./17. Jahrhundert eingetreten und wird unter anderem auf den Ausfall des /e/ (Apokope) am Ende der PrĂ€teritumformen regulĂ€rer Verben zurĂŒckgefĂŒhrt: Eindeutiger als er sagt und er sagte erschien die Form er hat gesagt.
Geschichte
In historischer Sicht steht die Ausbreitung und Ausbildung des deutschen Perfekts im 14. und 15. Jahrhundert im Zusammenhang mit dem RĂŒckgang der finiten Form mit prĂ€figiertem ge- und der aspektuellen Opposition (vgl. lexikalisiert noch heute frieren versus gefrieren). âSeinâ stand zunĂ€chst bei intransitiven Verben perfekter Aktionsart und diente ursprĂŒnglich zur prĂ€sentischen Bezeichnung des Resultats eines vergangenen Vorgangs, etwa er ist gefallen = âer liegt am Bodenâ, oder er ist gefahren = âer ist daâ. Im Gegensatz hierzu hatte das Perfekt mit âhabenâ bei transitiven Verben ursprĂŒnglich eine passive Bedeutung, etwa ich habe das Buch gefunden = âich habe das Buch als ein gefundenesâ. Im Laufe der Zeit wurden diese Konstruktionen zunehmend zeitlich gedeutet und die Verwendung der beiden Hilfswörter lexikalisiert, wobei eine gewisse Verschiebung von âhabenâ zu âseinâ stattfand.[11][12][13]
Weblinks
Einzelnachweise
- â Johann Christian August Heyse: Theoretisch-praktische deutsche Grammatik. 4. Ausg. Hahn, Hannover 1827. S. 414.
- â Anne-Françoise Ehrhard: Die Grammatik von Johann Christian Heyse: KontinuitĂ€t und Wandel im VerhĂ€ltnis von Allgemeiner Grammatik und Schulgrammatik (1814â1914). Walter de Gruyter, Berlin 1998. S. 126.
- â Perfekt, duden.de
- â Vorgegenwart, duden.de
- â Die Grammatik (= Duden. Band 4). Hrsg. von der Dudenredaktion. 8., ĂŒberarbeitete Auflage. Dudenverlag, Mannheim/ZĂŒrich 2009, S. 463 bzw. Rn. 656. Die Dudengrammatik stĂŒtzt sich hier auf Thieroff 1992, Eisenberg 2006 und Zifonin et al. 1997.
- â Elisabeth Leiss: Die Verbalkategorien des Deutschen: Ein Beitrag zur Theorie der sprachlichen Kategorisierung. Walter de Gruyter, Berlin 1992. S. 276ff.
- â Duden, Die Grammatik. 7. Auflage. 2005, ISBN 3-411-04047-5, Rn. 706.
- â Vgl. Hadumod BuĂmann (Hrsg.): Lexikon der Sprachwissenschaft. 3. aktualisierte und erweiterte Auflage. Kröner, Stuttgart 2002, ISBN 3-520-45203-0. Perfekt: âKennzeichnung eines in der Zeitstufe der Vergangenheit abgeschlossenen, aber in die Gegenwart hineinwirkenden Sachverhaltsâ; unklar/anders Reimann Kessel: Basiswissen Deutsche Gegenwartssprache. Fink, TĂŒbingen 2005, ISBN 3-8252-2704-9, S. 81, die eine bloĂe Vorzeitigkeit ausreichen lassen und als weiteren Fall den aktuellen Gegenwartsbezug nennen.
- â Duden, Die Grammatik. 7. Auflage. 2005, ISBN 3-411-04047-5, Rn. 726.
- â Diesen Standpunkt vertritt z. B. Wolfgang Klein: Time in Language. Routledge, London 1994.
- â Hermann Paul: Kurze deutsche Grammatik auf Grund der fĂŒnfbĂ€ndigen Deutschen Grammatik. Eingerichtet von Heinz Stolte. 3., verbesserte Auflage. Niemeyer, TĂŒbingen 1962 (Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte A. 10), S. 334 ff.
- â Robert Peter Ebert, Oskar Reichmann, Hans-Joachim Solms, Klaus-Peter Wegera: FrĂŒhneuhochdeutsche Grammatik. Hrsg. von Oskar Reichmann und Klaus-Peter Wegera. Niemeyer, TĂŒbingen 1993 (Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte B. 7), S. 386 ff.
- â Ingerid Dal: Kurze deutsche Syntax auf historischer Grundlage. 3., verbesserte Auflage. Niemeyer, TĂŒbingen 1966 (Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte A. 12), S. 121â128