Neuer Unionsvertrag

Unionsrepubliken, die den Vertrag unterzeichnen wollten (rot), die den Vertrag unterzeichnen wollten, aber nach dem Augustputsch für Unabhängigkeit plädierten (orange), sowie die, die Unabhängigkeit suchten (schwarz).

Der Neue Unionsvertrag (russisch Новый союзный договор Nowy sojusny dogowor) ist ein Vertragsentwurf, der den Vertrag über die Gründung der UdSSR von 1922 ersetzen sollte, um die Sowjetunion zu retten und zu reformieren. Einen Tag vor Unterzeichnung des Vertrags kam es am 19. August 1991 zum Augustputsch, in dessen Folge der Vertrag nicht zur Unterzeichnung kam und die Sowjetunion zerfiel. Die Vorbereitung dieses Vertrags wurde als Nowoogarjowski-Prozess (russisch Новоогарёвский процесс) bezeichnet, benannt nach Nowo-Ogarjowo, dem Anwesen der Staatsführung bei Moskau, in dem das Dokument bearbeitet wurde und in dem der Präsident der UdSSR und Generalsekretär der KPdSU Michail Gorbatschow mit den Führern der Republiken sprach.

Aus der Idee des Staatenbundes entstand später die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten.

Geschichte

Der neue Vertrag sollte den Vertrag zur Gründung der Sowjetunion von 1922 [A 1] und die Sowjetunion selbst durch eine neue, supranationale Entität ersetzen. Gorbatschows Hauptanliegen war es, den Zerfall der Sowjetunion aufzuhalten und diese grundlegend zu reformieren. Die Vorbereitungen zur Bildung des neuen Staatenbundes wurden, vor allem in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, in Anlehnung an die Residenz des sowjetischen Präsidenten als Nowo-Ogarjowo-Prozess bekannt, da in dieser die Hauptverhandlungen zwischen den Regierungschefs der Unionsrepubliken und Gorbatschow stattfanden.

Der erste Vorschlag zur Bildung einer dezentralisierten, föderalen Sowjetunion wurde von Gorbatschow im Juli 1990 beim 28. Kongress der KPdSU vorgestellt. Der Entwurf ging dem Obersten Sowjet am 23. November 1990 zu, der daraufhin einen Ausschuss zur Überarbeitung des Textes bildet. Dieser nahm seine Arbeit am 1. Januar 1991 auf. Bereits zu diesem Zeitpunkt war abzusehen, dass die Sowjetunion nicht in ihrer Gesamtheit würde erhalten bleiben können. Da die Armenische SSR, die Estnische SSR, die Georgische SSR, die Lettische SSR, die Litauische SSR und die Moldauische SSR in die Unabhängigkeit strebten, verweigerten ihre Vertreter die Mitarbeit am Text.

Der Oberste Sowjet genehmigte den Text schließlich am 6. März, der daraufhin an die Sowjets der Unionsrepubliken zur Ratifizierung weitergeleitet wurde.

Referendum

Stimmzettel des Referendums vom 17. März 1991

Am 17. März 1991 wurde das Referendum zum Unionsvertrag abgehalten. Dies war das erste und einzige Referendum in der Geschichte der Sowjetunion. Zur Abstimmung stand die Frage:

Halten Sie den Erhalt der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken als erneuerte Föderation gleichberechtigter souveräner Republiken, in der die Rechte und Freiheiten des Menschen jeglicher Nationalität in vollem Umfang garantiert werden, für notwendig?

Wortlaut des Referendums am 17. März 1991 in der UdSSR [1]

Das Referendum sollte auf Beschluss des Obersten Sowjet gleichzeitig in allen Unionsrepubliken stattfinden, wurde aber von den sechs Republiken, die den Unionsvertrag zuvor bereits abgelehnt hatten, boykottiert. Die baltischen Republiken und Georgien hatten schon zuvor ihre Unabhängigkeit proklamiert und eigene Referenden abgehalten oder angekündigt.[A 2]

Die neun beteiligten Unionsrepubliken stellten ca. 92,7 % der Einwohner und 98,6 % der Fläche der Sowjetunion dar.

In den neun beteiligten Unionsrepubliken stimmten die Bürger bei hoher Wahlbeteiligung mit großer Mehrheit für den Fortbestand der Sowjetunion als Föderation gleichberechtigter souveräner Republiken. In jeder der neun Republiken wurde die absolute Mehrheit der stimmberechtigten Gesamtbevölkerung erreicht. Besonders hoch war die Zustimmung in den zentralasiatischen Republiken. In Kirgisien, Tadschikistan, Turkmenien und Usbekistan lagen Wahlbeteiligung und Zustimmung über 90 %.

Ergebnis des Referendums vom 17. März 1991 in den neun beteiligten Unionsrepubliken[2][3]
Republik Ja
Nein
Ungültig Abgegebene
Stimmen
Registrierte
Wähler
Wahl-
beteil.
Stimmen % Stimmen % Stimmen %
Aserbaidschanische SSR 2.709.246 93,3 169.225 5,8 25.326 0,9 2.903.797 3.866.659 75,1
Kasachische SSR 8.295.519 94,1 436.560 5,0 84.464 1,0 8.816.543 9.999.433 88,2
Kirgisische SSR 2.057.971 94,6 86.245 4,0 30.377 1,4 2.174.593 2.341.646 92,9
Russische SFSR 56.860.783 71,3 21.030.753 26,4 1.809.633 2,3 79.701.169 105.643.364 75,4
Tadschikische SSR 2.315.755 96,2 75.300 3,1 16.497 0,7 2.407.552 2.549.096 94,4
Turkmenische SSR 1.766.584 97,9 31.203 1,7 6.351 0,4 1.804.138 1.847.310 97,7
Ukrainische SSR 22.110.899 70,2 8.820.089 28,0 583.256 1,9 31.514.244 37.732.178 83,5
Usbekische SSR 9.196.848 93,7 511.373 5,2 108.112 1,1 9.816.333 10.287.938 95,4
Weißrussische SSR 5.069.313 82,7 986.079 16,1 71.591 1,2 6.126.983 7.354.796 83,3
Militärstützpunkte u. ä. 1.107.980 89,8 113.283 9,2 12.595 1,0 1.233.858 1.261.721 97,8
gesamt 111.490.898 76,0 32.260.110 22,1 2.748.202 1,9 146.499.210 182.884.141 80,0

In den sechs nicht beteiligten Unionsrepubliken verweigerten die lokalen Regierungen die Durchführung des Referendums. In diesen Republiken wurden zahlreiche provisorische Wahlkommissionen von sowjetischen Institutionen und einigen örtlichen Sowjets gebildet, insbesondere in Einrichtungen der KPdSU und des Militärs. Dadurch hatten auch Bürger dieser Republiken die Möglichkeit, am Referendum teilzunehmen.[4]

Die Ergebnisse dieser provisorischen Abstimmungen wurden in die offizielle Ergebnisse des Referendums der UdSSR aufgenommen, obwohl diese Daten keinesfalls als repräsentativ gelten können. Um am Referendum teilnehmen zu können, mussten sich Interessierte in den nicht beteiligten Republiken zunächst in eigens erstellte Wahlregister eintragen lassen, was nur ein Bruchteil der Bevölkerung getan hat. Trotzdem wurde in den offiziellen Ergebnissen die Wahlbeteiligung nur auf Grundlage dieser Wahlregister bestimmt. So wurde z. B. für die Armenische SSR eine Wahlbeteiligung von 72,1 % ausgewiesen, obwohl von 3,3 Mio. Einwohnern lediglich 3.549 gewählt haben, was effektiv einer Wahlbeteiligung von ca. 0,15 % entspricht.

In Litauen haben laut amtlichem Endergebnis 98,9 % der Wähler für den Unionsvertrag gestimmt, basierend auf 496.050 Ja-Stimmen. Kurz zuvor, am 9. Februar 1991, hatten jedoch mehr als 2 Mio. Menschen in Litauen für die Unabhängigkeit von der Sowjetunion gestimmt. Ähnliches gilt für Estland und Lettland [A 2]. In Georgien wurde das Referendum nur auf dem Teilgebiet der (bis heute umstrittenen) Autonomen Republik Abchasien staatlich kontrolliert, während im größten Teil Georgiens nur vereinzelt provisorische Abstimmungen stattfanden.

Ergebnis des Referendums vom 17. März 1991 in den nicht beteiligten Unionsrepubliken[2][3]
Republik Ja
Nein
Abgegebene
Stimmen
Registrierte
Wähler
Wahl-
beteil.
Einwohner Wähler-
anteil
Stimmen % Stimmen %
Armenische SSR 2.541 71,6 966 27,2 3.549 4.923 72,1 3.287.700 0,1
Estnische SSR 211.090 95,0 10.040 4,5 222.240 299.681 74,2 1.565.662 19,1
Georgische SSR 43.950 99,9 9 0,0 44.012 45.696 96,3 4.337.600 8,4
Abchasische ASSR [A 3] 164.231 98,6 1.566 0,9 166.544 318.317 52,3
Lettische SSR 415.147 95,1 18.015 4,1 436.783 670.828 65,1 2.666.567 25,2
Litauische SSR 496.050 98,9 4.355 0,9 501.375 582.262 86,1 3.689.779 15,8
Moldauische SSR 688.905 98,3 8.916 1,3 700.893 841.507 83,3 4.337.600 19,4
gesamt 2.021.914 94,6 43.867 4,7 2.075.396 2.763.214 82,2 19.884.908 13,9

Insgesamt stimmten 113,5 Mio. Sowjetbürger für den Unionsvertrag. Dies waren 76 % der abgegebenen Stimmen und die absolute Mehrheit der stimmberechtigten Gesamtbevölkerung der Sowjetunion.

Weiterer Verlauf

Am 23. April wurde schließlich die Gemeinsame Erklärung über den Fortbestand der Sowjetunion (9+1-Abkommen) zwischen den neun Unionsrepubliken und der Sowjetischen Zentralregierung in Nowo-Ogarjowo unterzeichnet. Darin wurde vereinbart, dass die Sowjetunion in einen Staatenbund von unabhängigen Staaten mit einem gemeinsamen Präsidenten, gemeinsamer Außenpolitik und gemeinsamen Streitkräften umformiert werden sollte.

Bis August hatten acht der neun Republiken den Vertrag ratifiziert. Die Ukraine stimmte den Bedingungen des Vertrages nicht oder nur unter den Bedingungen ihrer Unabhängigkeits­erklärung zu, was auch im Referendum vom 17. März zum Ausdruck gekommen war.

Panzer auf dem Roten Platz während des Augustputsches

Obwohl die Intention des Vertrages darin bestand, die Union zu erhalten und zu stärken, befürchteten zahlreiche Hardliner im sowjetischen Staatsapparat, dass dieser Vertrag den Unions­republiken zu viel Souveränität gewähren und dadurch die Sowjetunion weiter schwächen würde. In Gorbatschows Perestroika-Politik und in den Unabhängigkeits­bestrebungen einiger kleinerer Republiken sahen sie zunehmend eine Bedrohung für die Existenz der UdSSR.

Am 19. August 1991, einen Tag vor der geplanten feierlichen Unterzeichnung des Unionsvertrages in Moskau, versuchte eine Gruppe hochrangiger Funktionäre unter Führung des sowjetischen Vizepräsidenten Gennadi Janajew, mit dem Augustputsch die Regierungsgewalt zu erlangen und den Abschluss des Unionsvertrages zu verhindern. Der Putsch scheiterte innerhalb weniger Tage, führte aber zum sofortigen Zusammenbruch der Regierung und schließlich zum endgültigen Zerfall der Sowjetunion.

Am 24. August trat Gorbatschow als Generalsekretär der KPdSU zurück. Sein Vizepräsident Janajew, Verteidigungsminister Jasow, Premierminister Pawlow und der Chef des KGB, Wladimir Krjutschkow wurden verhaftet und wegen Hochverrats angeklagt. Innenminister Pugo entzog sich der Verhaftung durch Suizid. Am 6. November wurde die KPdSU verboten.

Der Unionsvertrag wurde, trotz der klaren Willensbekundung des Volkes und der Ratifizierung durch acht Parlamente, nie unterzeichnet. Am 21. Dezember 1991 wurde die Sowjetunion offiziell aufgelöst.

Bezeichnung

Im ersten Entwurf für den Vertrag wurde für den Staatenbund der Name Union der Sowjetischen Souveränen Republiken (russisch Союз Советских Суверенных Республик Sojus Sowjetskich Suwerennych Respublik) vorgeschlagen, womit die Kurzbezeichnung Sowjetunion und die Kürzung UdSSR bzw. СССР erhalten geblieben wäre.

Bis November 1991 wurde deutlich, dass das Fortbestehen eines wie auch immer gearteten kommunistischen Staates unrealistisch war. So wurde der neue Name Union Souveräner Staaten (russisch Сою́з Сувере́нных Госуда́рств (ССГ)) kreiert. Später wurde dann daraus die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten – GUS (Содружество Независимых Государств (СНГ) / Sodruschestwo Nesawissimych Gossudarstw (SNG)).

Teilnehmerstaaten

Karte Flagge Name der Unionsrepublik Heutige Flagge Heutiger Staat
Aserbaidschanische Sozialistische Sowjetrepublik
Азәрбајҹан ССР
Republik Aserbaidschan
Azərbaycan Respublikası
Kasachische Sozialistische Sowjetrepublik
Қазақ КСР
Republik Kasachstan
Қазақстан Республикасы
Kirgisische Sozialistische Sowjetrepublik
Кыргыз ССР
Kirgisische Republik
Кыргыз Республикасы
Kırgız Respublikası
Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik
Российская СФСР
Russische Föderation
Российская Федерация
Tadschikische Sozialistische Sowjetrepublik
РСС Тоҷикистон
Republik Tadschikistan
Ҷумҳурии Тоҷикистон
Dschumhurii Todschikiston
Turkmenische Sozialistische Sowjetrepublik
Түркменистан ССР
Republik Turkmenistan
Türkmenistan Jumhuriyäti
Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik
Українська РСР
Ukraine
Україна
Usbekische Sozialistische Sowjetrepublik
Ўзбекистон ССР
Republik Usbekistan
Oʻzbekiston Respublikasi
Weißrussische Sozialistische Sowjetrepublik
Беларуская ССР
Republik Belarus
Рэспубліка Беларусь

Nichtteilnehmerstaaten

Karte Flagge Name der Unionsrepublik Heutige Flagge Heutiger Staat
Armenische Sozialistische Sowjetrepublik
Հայկական ՍՍՀ
Republik Armenien
Հայաստանի Հանրապետություն
Estnische Sozialistische Sowjetrepublik
Eesti NSV
Republik Estland
Eesti Vabariik
Georgische Sozialistische Sowjetrepublik
საქართველოს სსრ
Georgien
საქართველო
Lettische Sozialistische Sowjetrepublik
Latvijas PSR
Republik Lettland
Latvijas Republika
Litauische Sozialistische Sowjetrepublik
Lietuvos TSR
Republik Litauen
Lietuvos Respublika
Moldauische Sozialistische Sowjetrepublik
РСС Молдовеняскэ
RSS Moldovenească
Republik Moldau
Republica Moldova

Siehe auch

Quellen

Einzelnachweise

  1. Original (russisch): Считаете ли Вы необходимым сохранение Союза Советских Социалистических Республик как обновлённой федерации равноправных суверенных республик, в которой будут в полной мере гарантироваться права и свободы человека любой национальности?
  2. a b Bericht der Zentralen Referendumskommission der UdSSR über die Ergebnisse des Referendums vom 17. März 1991 (russisch).
  3. a b Ergebnisse des Referendums der UdSSR vom 17. März 1991, Prawda, 27. März 1991, abgerufen am 16. Oktober 2020 (russisch).
  4. Referendum über die Erhaltung der UdSSR am 17. März 1991, RIA Novosti, 17. März 2016 (russisch, abgerufen am 16. Oktober 2020)

Anmerkungen

  1. Siehe auch Gründungsvertrag der UdSSR (englisch)
  2. a b Referenden zur staatlichen Unabhängigkeit:
  3. Die Abchasische ASSR war Teil des Staatsgebietes der Georgischen SSR