Natalie Zemon Davis

Natalie Zemon Davis, CC (geboren am 8. November 1928 in Detroit; gestorben am 21. Oktober 2023 in Toronto[1]) war eine kanadisch-amerikanische Historikerin und Kulturwissenschaftlerin jüdischer Herkunft. Ihre Forschungsschwerpunkte lagen in der Sozial- und Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit, insbesondere Frankreichs. Ihr bekanntestes Werk ist die mikrohistorische Studie Die wahrhaftige Geschichte von der Wiederkehr des Martin Guerre.

Natalie Zemon Davis (2010)

Leben

Natalie Zemon Davis wurde 1928 in Detroit als Tochter des Textilgrossisten Julian Zemon geboren. Sie besuchte eine private Mädchenschule in einem Vorort und später die Kingswood School (heute: Cranbrook Kingswood School) in Bloomfield Hills, die zur Cranbrook Educational Community gehört. Sie schloss 1949 das nur Frauen offenstehende Smith College in Northampton mit einer Arbeit über den Renaissance-Philosophen Pietro Pomponazzi ab. An diesem College kam sie in Berührung mit der politischen Linken und engagierte sich als politische Aktivistin in der Organisation American Youth for Democracy, einer Gruppe, die von der kommunistischen Partei unterstützt wurde. Nach einem Studium in Harvard und Michigan promovierte sie 1959 an der University of Michigan in Ann Arbor. Das Thema ihrer Dissertation war der Protestantismus innerhalb der Arbeiterschicht der Lyoner Druckindustrie.[2] Sie lehrte 1956 an der Columbia University in New York, danach 1956 bis 1963 an der Brown University in Providence, 1963 bis 1964 an der York University in Toronto, 1971 bis 1977 an der University of California in Berkeley, 1977 an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Social in Paris und von 1978 bis zu ihrer Emeritierung im Jahre 1996 an der Princeton University in New Jersey. Sie war zudem Gastprofessorin in Berkley im Jahr 1968, in Yale 1987, am Balliol College an der Universität Oxford von 1994 bis 1995 und schließlich an der University of Toronto von 1996 bis 1997.[3] Seit ihrer Emeritierung im Jahr 1996 lebte sie als Schriftstellerin in Toronto und unterrichtete an der dortigen Universität. Am 26. April 2019 fand an der University of Princeton eine Tagung zu Ehren ihres 90. Geburtstags statt, auf der neben Natalie Zemon Davis auch Kolleginnen und Kollegen wie Francesca Trivellato und Joan W. Scott sprachen.[4][5]

Sie war Herausgeberin zahlreicher Fachzeitschriften und 1987 Präsidentin der American Historical Association.

Davis war eine der wichtigsten Vertreterinnen der Neuen Kulturgeschichte. Ihre Studien zu Humanismus und Reformation, Gender Studies und Judentum nehmen eine Vorreiterrolle in der interdisziplinären Kulturwissenschaft ein.

Privates

Im Jahr 1948 lernte sie den später in Toronto lehrenden Mathematiker Chandler Davis an der Harvard Summer School kennen und heiratete ihn sechs Wochen später. Es war eine „Skandalehe“, weil sie einen Protestanten heiratete. Die beiden haben zusammen drei Kinder: Aaron Davis, Hannah Davis sowie Simone Davis. Natalie Zemon Davis starb im Oktober 2023, knapp drei Wochen nach ihrem 95. Geburtstag.

Forschungsinteressen

Durchbruch in der Popkultur durch The Return of Martin Guerre

Hauptartikel: Die wahrhaftige Geschichte von der Wiederkehr des Martin Guerre

Dem großen Publikum wurde Natalie Zemon Davis durch ihren in 21 Sprachen übersetzten Bestseller The Return of Martin Guerre (deutsch: Die wahrhaftige Geschichte von der Wiederkehr des Martin Guerre) bekannt. Das Buch erzählt die Geschichte des Bauers Martin Guerre, der im Jahre 1548 spurlos aus Artigat (Frankreich) verschwunden ist. Einige Jahre später tauchte jemand auf, der sich als Martin Guerre ausgab und dem es gelang, einen Großteil aus Familie und Dorfgemeinschaft davon zu überzeugen, dass er Martin Guerre sei. Nach Zweifeln über seine Identität und finanziellen Reibereien wurden zwei Gerichtsprozesse initiiert. Er wurde als Betrüger hingerichtet, nachdem der richtige Martin Guerre am Ende des zweiten Gerichtsprozesses wieder erschienen war und die Gerichtsverhandlung über die Identität seiner Person somit eindeutig gegen ihn entschied.

Ihrem Buch ging eine Zusammenarbeit mit dem Regisseur Daniel Vigne im Rahmen des Filmes Le Retour de Martin Guerre voraus, der 1982, ein Jahr vor der Veröffentlichung ihres Buches, erschien. Im Film spielte Gérard Depardieu die Rolle des falschen Martin Guerre. Davis war maßgeblich am Drehbuch für den Film beteiligt.

Die Geschlechtergeschichte der Frühneuzeit

Davis hat sich als eine der Ersten mit der Geschlechtergeschichte in der frühen Neuzeit beschäftigt. Während dieser Epoche des 16. und 17. Jahrhunderts wurde die Konstruktion von „Weiblichkeit“ und „Männlichkeit“ ausgebaut. Davis’ erklärtes Ziel war es, innerhalb diverser Gesellschaften wie auch in unterschiedlichen Zeitepochen die Spannweite der Geschlechterrollen ebenso wie den sexuellen Symbolismus zu erforschen, um besser zu verstehen, wie diese funktionieren und Gesellschaftsordnungen unterstützen oder deren Veränderungen auslösen. Es gelte zu erklären, weshalb Geschlechterrollen je nach Gesellschaft genau definiert oder fließend sein können und konnten, wieso sie manchmal asymmetrisch und manchmal „fair“ sind oder waren. Davis befasste sich dabei mit Fragen, wie Frauen gelebt haben und wie es ihnen in einer Ordnung, die sich in kultureller, politischer und sozialer Hinsicht wandelt, ergeht. Dabei legte sie Wert darauf, dass nicht nur über die Frauen als unterdrücktes Geschlecht geforscht wird, sondern dass der Mechanismus der Unterdrückung ins Zentrum gerückt wird. Davis vertrat die Meinung, dass eine Verbesserung der Stellung der Frau vom Mittelalter bis in die Moderne nicht stattgefunden habe.[6]

Gender Studies

In ihrem Vortrag auf der Berkshire Conference im Jahr 1975, der ein Manifest der Frauenbewegung werden sollte, sagte sie Folgendes[7]:

Aber mir scheint, dass wir uns für die Geschichte von Frauen wie von Männern interessieren sollten, dass wir nicht ausschließlich über das unterdrückte Geschlecht arbeiten sollten [...] Es sollte zur zweiten Natur für Historiker – gleich was sein oder ihr Spezialgebiet ist – werden, die Konsequenzen des Geschlechts ebenso bereitwillig zu berücksichtigen wie etwa die Klassenzugehörigkeit.[8]

Ihrer Beschäftigung mit den Gender Studies verlieh sie außerdem Nachdruck durch ihre mikrohistorische Studien Drei Frauenleben, worin sie das Leben dreier europäischer Frauen im 17. und 18. Jahrhundert analysierte: Dies sind die Hamburger Kauffrau Glikl bas Judah Leib, die Nonne Marie de l’Incarnation und die protestantische Malerin Maria Sibylla Merian.

Interreligiöse und interkulturelle Kulturstudien

Bereits 1988 veröffentlichte sie eine Biografie des venezianischen Rabbis Leone Modena. Damit öffnete sich ihr die jüdische Geschichte.

Ihr Fachgebiet in den Bereich der Islamwissenschaft erweiternd, schrieb Davis 2006 eine weitere mikrohistorische Studie: Leo Africanus. Ein Reisender zwischen Orient und Okzident. Darin beschäftigte sie sich mit dem Diplomaten und Autor Leo Africanus, der als Muslim geboren wurde und später von Papst Leo X. getauft wurde. Leo Africanus veröffentlichte zu Lebzeiten mehrere Werke, darunter eine geographische und kulturelle Beschreibung Nordafrikas, welche in den späteren Jahrhunderten äußerst einflussreich wurde. In ihrer Studie ging Davis der Beziehung christlicher und islamischer Kommunikation im 16. Jahrhundert nach und arbeitete die gegenseitigen Vorstellungen der Religionen heraus. Außerdem analysierte sie die Umwelt Leo Africanus’ in Bezug auf Vorstellungen über Gender, Sexualität und Sklaverei.

Preise und Auszeichnungen

Werke

Literatur

  • Norbert Schindler: Für eine Geschichte realer Möglichkeiten. in: Davis: Humanismus, Narrenherrschaft und die Riten der Gewalt, 1987, S. 328–349.
  • Susanna Burghartz: „Die Vergangenheit ist unendlich reizvoll und bisweilen sogar eine Quelle der Hoffnung.“ Nachruf auf Natalie Zemon Davis (1928–2023). In: L'Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft. Bd. 35 (2024), Heft 1, S. 133–136.
  • Susanna Burghartz, Jan-Friedrich Missfelder: „Die Geschichte ist ein Geschenk der Vergangenheit, das sie für uns hinterlassen hat.“ Zum Tod von Natalie Zemon Davis (1928–2023). In: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte / Revue Suisse d'Historie / Rivista Storica Svizzera. Bd. 74 (2024), Heft 1, S. 111–115.

Siehe auch

Commons: Natalie Zemon Davis – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Nachruf, abgerufen am 24. Oktober 2023.
  2. Schindler, Norbert: Natalie Zemon Davis. In: Lutz Raphael (Hrsg.): Klassiker der Geschichtswissenschaft. 2, Von Fernand Braudel bis Natalie Z. Davis. C. H. Beck, München 2006, ISBN 3-406-54104-6, S. 235 (google.de).
  3. Schindler, Norbert: Natalie Zemon Davis. In: Lutz Raphael (Hrsg.): Klassiker der Geschichtswissenschaft. 2 Von Fernand Braudel bis Natalie Z. Davis. C. H. Beck, München 2006, ISBN 3-406-54104-6, S. 238 (google.de).
  4. Workshop Celebrating Natalie Zemon Davis. Abgerufen am 29. August 2019 (englisch).
  5. Andreas Eckert: Ehre für Natalie Zemon Davis: Das ist so interessant! ISSN 0174-4909 (faz.net [abgerufen am 29. August 2019]).
  6. Caroline Arni: "Ich liebe es, Geschichten zu erzählen": Natalie Zemon Davis und die Geschlechtergeschichte der Frühneuzeit. In: Emanzipation: feministische Zeitschrift für kritische Frauen. Band 21 (1995), Nr. 1, S. 10–12.
  7. Norbert Schindler: Natalie Zemon Davis. In: Lutz Raphael (Hrsg.): Klassiker der Geschichtswissenschaft. Band 2. C. H. Beck, München 2006, ISBN 3-406-54104-6, S. 246.
  8. Davis, Natalie Zemon: Gesellschaft und Geschlechter. Vorschläge für eine neue Frauengeschichte. In: Dies. (Hrsg.): Frauen und Gesellschaft am Beginn der Neuzeit. Studien über Familie, Religion und die Wandlungsfähigkeit des sozialen Körpers. Wagenbach, Berlin 1986, S. 126.
  9. Fellows: Natalie Zemon Davis. British Academy, abgerufen am 25. September 2020.
  10. Universität Basel: Ehrenpromotionen Philosophisch-Historische Fakultät
  11. Website des Holberg International Memorial Prize 2010: Natalie Zemon Davis (Memento vom 18. Juni 2018 im Internet Archive)
  12. Member History: Natalie Zemon Davis. American Philosophical Society, abgerufen am 7. Juli 2018 (englisch, mit Kurzbiographie).
  13. New Fellows of the Royal Society of Canada 2016. In: Canadian Society for the History of Medicine. 10. September 2016, abgerufen am 28. Februar 2021 (englisch).