Mitternachtskinder

Mitternachtskinder ist der deutsche Titel des 1981 erschienenen Romans Midnight’s Children von Salman Rushdie. Er erschien 1983 auf Deutsch in der Übersetzung von Karin Graf. Mitternachtskinder erhielt den Booker Prize 1981 und wurde 2008 als Best of Booker prĂ€miert, also als Sieger unter allen Gewinnern des Preises bis dato.

2012 wurde das Buch in einer kanadisch-britischen Koproduktion unter demselben Titel von Deepa Mehta verfilmt.

Handlung

Mitternachtskinder beschreibt die Geschichte des Saleem Sinai. Er wird exakt um Mitternacht am 15. August 1947 geboren, zeitgleich mit der UnabhĂ€ngigkeitserklĂ€rung Indiens von Großbritannien. In einer historischen Rede vor der Verfassungsgebenden Versammlung proklamiert Jawarhalal Nehru: „Mit dem Schlag zu Mitternacht, wĂ€hrend die Welt schlĂ€ft, erwacht Indien zum Leben und zur Freiheit“[1]; So ist das Schicksal Saleems mit dem der Nation verwoben.

Im RĂŒckblick beschreibt Saleem als allwissender ErzĂ€hler die Geschichte seiner Vorfahren, die an den historischen Ereignissen auf dem indischen Subkontinent seit Beginn des 20. Jahrhunderts teilhaben, wenn auch meist nur als Zuschauer. So wird das Blutbad in Amritsar 1919 beschrieben, die Kolonialzeit unter britischen Herrschaft, und die religiösen Spannungen, die die Teilung des Landes vorzeichnen. Die Handlung folgt dabei zunĂ€chst seinen Großeltern aus Kaschmir nach Agra und schließlich seinen Eltern von Delhi nach Bombay unmittelbar vor der UnabhĂ€ngigkeitserklĂ€rung.

Saleem wĂ€chst in einem wohlhabenden Teil Bombays auf und erlebt das erste Jahrzehnt der UnabhĂ€ngigkeit und den ökonomischen Aufschwung. Im Kindesalter stellt er eine Beziehung seines Lebens mit den historischen Wendepunkten der jungen Nation fest. So entdeckt er eine telepathische Verbindung zu den namensgebenden Mitternachtskindern, die ebenfalls wie er in der ersten Stunde der indischen UnabhĂ€ngigkeit geboren sind. Als Angehörige der muslimischen Minderheit zieht seine Familie nach Pakistan, als Saleem die PubertĂ€t erreicht. Sie leben zunĂ€chst in Rawalpindi und spĂ€ter in Karatschi. Saleems Adoleszenz ist geprĂ€gt durch die MilitĂ€rherrschaft und religiöse Tabus. Als VolljĂ€hriger wird er im Zweiten Indisch-Pakistanischen Krieg durch indisches Bombardement traumatisiert und findet sich als Waise schließlich in einem Regiment der pakistanischen Armee wieder. Als Reaktion auf die Abspaltung Bangladeschs in einen eigenstĂ€ndigen Staat ist Saleems Einheit an politischen Vergeltungen und Kriegsverbrechen beteiligt.

Als Deserteur versteckt er sich im Dschungel der Sundarbans und flieht nach dem Sieg der indischen Truppen infolge der gescheiterten pakistanischen Besetzung Bangladeschs vor der Kriegsgefangenschaft nach Delhi. WĂ€hrend des von Indira Gandhi ausgerufenen Ausnahmezustands lebt er in Armut in einem Slum vor der Jama Moschee unter Tagelöhnern. Nach langem Werben heiratet er Parvati, die sich als Magierin verdingt und die wie Saleem ein Mitternachtskind ist. Er adoptiert Parvatis Sohn und wird Assistent eines Schlangenbeschwörers, der sich im politischen Widerstand engagiert. Indiras Sohn Sanjay Gandhi lĂ€sst das Elendsviertel niederreißen, um das Stadtbild zu verschönern, und unterzieht seine Bewohner einer Zwangssterilisation. Parvati stirbt und Saleem wird ein politischer Gefangener in Varanasi. Nach seiner Freilassung sucht er seinen Sohn und reist mit diesem nach Bombay, wo er sich schließlich als Fabrikant von Eingemachtem niederlĂ€sst. Seine Geschichte endet in der Gegenwart, also kurz vor dem Erscheinen des Romans 1981.

Entstehung des Romans

Salman Rushdie schildert in einem Vorwort zur JubilĂ€umsausgabe im Verlag Random House die Entstehung des Romans.[2] Mit dem Vorschuss seines ersten Romans, Grimus, 700 Britischen Pfund, reiste er so lange wie möglich durch Indien. Dieser monatelange Aufenthalt im Land seiner Jugend fĂŒhrte ihn in unterschiedliche Landesteile und soziale Schichten. Nachdem Indira Gandhi Premierministerin Indiens wurde, drĂ€ngte sie sich Rushdie zentral fĂŒr sein nĂ€chstes Projekt auf; gleichzeitig hegte er den Plan, ĂŒber seine eigene Jugend in Bombay zu schreiben. Dies verband er mit einem Charakter aus seinem unveröffentlichten Roman, The Antagonist, Saleem Sinai, der im exakten Moment der indischen UnabhĂ€ngigkeit geboren wird.

Magischer Realismus

Der Feuilletonist Jochen Hieber sieht in Salman Rushdies Roman eine „originĂ€re“ Weiterentwicklung des Magischen Realismus von Gabriel GarcĂ­a MĂĄrquez und GĂŒnter Grass. Diese „epochenmachende ErzĂ€hlweise“ habe dazu beigetragen, den Roman zum Erscheinungszeitpunkt zu etwas „ungeheuer Neue[m]“ zu machen.[3]

Das Indien Saleems ist durchsetzt von Mythen und Mysterien, Magie ist mehr als nur Aberglaube. Die tatsÀchlichen historischen Ereignisse werden eingebettet in einen Rahmen aus Zauber und ungewöhnlichen KrÀften.

„Wahrheit und Wirklichkeit sind nicht unbedingt dasselbe. Wahrheit war fĂŒr mich seit meiner frĂŒhesten Kindheit etwas, was in den Geschichten verborgen war, die Pereira mir erzĂ€hlte: Mary; meine Ayah, die gleichzeitig mehr und weniger war als eine Mutter; Mary; die alles ĂŒber uns wußte. Wahrheit war etwas, was direkt hinter dem Horizont verborgen war, auf den in dem Bild an meiner Wand der Finger des Fischers deutete, wĂ€hrend der Knabe Raleigh seinen ErzĂ€hlungen lauschte. WĂ€hrend ich dies nun im Lichtkegel meiner Schwenklampe schreibe, messe ich die Wahrheit an diesen frĂŒhen Dingen: HĂ€tte Marie sie so erzĂ€hlt, frage ich? HĂ€tte der Fischer das gesagt? [
] Und nach diesen MaßstĂ€ben ist es unanfechtbar wahr, daß meine Mutter an einem Tag im Januar 1947, sechs Monate, bevor ich auftauchte, alles ĂŒber mich erfuhr, wĂ€hrend mein Vater mit einem DĂ€monenkönig aneinandergeriet.“

– S. 104–105

Die „Mitternachtskinder“ sind ein PhĂ€nomen zwischen RealitĂ€t und Magie. Saleem findet mit dem Eintritt in die PubertĂ€t heraus, dass alle Kinder, die in der Nacht der indischen UnabhĂ€ngigkeit geboren worden sind, besondere KrĂ€fte besitzen. Als genau um Mitternacht Geborener hat er die herausragendsten: Er kann die Gedanken anderer lesen und auch vermitteln. So ist es ihm möglich, die ĂŒber ganz Indien und Pakistan verstreuten Mitternachtskinder mit ihren besonderen Aufgaben aufzuspĂŒren und ihnen â€“ in seinem Kopf, der als Medium fungiert â€“ ein Forum zu bieten.

Doch wie sich herausstellt, sind auch diese besonderen Menschen nicht in der Lage, alte Vorurteile zu ĂŒberbrĂŒcken, wie sie zum Beispiel zwischen Moslems und Hindus herrschen.

Themen

Kopplung Biographie / Geschichte

Das Schicksal der Romanfiguren ist untrennbar mit den historischen Ereignissen gekoppelt. Die Geburtsstunde des ErzĂ€hlers Saleem Sinai, die Mitternachtsstunde des 15. August 1947, ist gleichzeitig der GrĂŒndungszeitpunkt Indiens, dessen Entwicklung das Leben des ErzĂ€hlers nachvollziehbar macht.

„[
] war mein Geschick unlösbar mit dem meines Landes verkoppelt worden.“

– S. 9

Aber auch andere Ereignisse in der Familie Saleems verweisen auf historische Parallelen. 1918, mit dem Ende des Ersten Weltkriegs, sieht der Großvater zum ersten Mal das Gesicht der Großmutter (vgl. 34), Urgroßvater und Urgroßmutter sterben (35).

Die Mutter verkĂŒndigt ihre Schwangerschaft öffentlich, um einen Hindu vor einem Moslempogrom zu retten. „Vom Augenblick meiner EmpfĂ€ngnis an, scheint es, bin ich öffentliches Eigentum gewesen.“ (102) Das Warten auf Saleems Geburt wird zu einem Countdown. Die Zeit vom 4. Juni 1947 bis zur UnabhĂ€ngigkeit Indiens ist erzĂ€hlerisch mit dem Warten auf die Mitternachtskinder durch den Preis der Regierung fĂŒr die erste Geburt gekoppelt. (121 ff., 132) Noch wĂ€hrend der Wehen grĂŒndet M. A. Jinnah Pakistan. (149)

Die HausĂŒbergabe Methwolds an die Familie stellt die englischen Bedingungen fĂŒr die MachtĂŒbergabe an Indien dar. (128)

Exil

Der Großvater Saalem Sinais hatte in Deutschland Medizin studiert und dort starrköpfig jede Anpassung verweigert. Erst nachdem er in die Heimat zurĂŒckgekehrt ist, bekommt er die Wirkung des Exils zu spĂŒren: Seine „weitgereisten Augen“ (11) lassen aus der „Schönheit“ der Heimat „BeschrĂ€nktheit“ (11) werden. Er fĂŒhlt sich abgewiesen in „feindliche Umgebung“ (14). Durch seine Liebeserfahrung mit der deutschen Kommilitonin Ingrid hat sich sein Frauenbild verĂ€ndert. Er ist mit Ingrids Verachtung fĂŒr seinen Glauben konfrontiert (12). Er sieht sich selbst und seine Heimat mit dem kolonialen Blick seiner Freunde. Indien – und damit auch er selbst – erscheint seinen Freunden als Erfindung ihrer Vorfahren (Vasco da Gama [12]). So sehr er im Ausland als exotischer ReprĂ€sentant der fernen Heimat wahrgenommen wurde, so schwer fĂ€llt ihm doch eine wirkliche RĂŒckkehr. Er lebt in einem „Zwischenreich“ (13).

Zeit

Ein Thema des Romans ist die Ungleichzeitigkeit, die mangelnde ObjektivitÀt selbst der Zeit:

„‚Es war nur eine Frage der Zeit‘, sagte mein Vater mit allen Zeichen von Freude; doch die Zeit war meiner Erfahrung nach schon immer eine unsichere Sache und nichts, auf was man sich verlassen konnte. Sie konnte sogar geteilt werden: Die Uhren in Pakistan eilten ihren indischen GegenstĂŒcken eine halbe Stunde voraus [
] Herr Kemal, der mit der Teilung nichts zu tun haben wollte, sagte gern: ‚Hier liegt der Beweis fĂŒr die Idiotie ihres Plans. Diese Liga-Leute planen, sich mit ganzen dreißig Minuten zu absentieren! Zeit-ohne-Teilung‘, rief Herr Kemal aus, ‚das ist die Lösung!‘ Und S. P. Butt sagte: ‚Wenn sie die Zeit einfach so verĂ€ndern können, was ist dann noch wirklich, frage ich Sie? Was ist wahr?‘“

– S. 104

Die Hindus benutzen das gleiche Wort fĂŒr gestern und morgen, so der ErzĂ€hler (142). Er verweist auf die elektrizitĂ€tsabhĂ€ngige Zeitansage und kommt zu dem Schluss:

„Zeit ist meiner Erfahrung nach so verĂ€nderlich und unbestĂ€ndig wie Bombays Stromversorgung.“

Ausgerechnet in einem alten Uhrturm findet Saleem Sinai schließlich seinen RĂŒckzugsort vor der rasenden Zeit, einen Ort, an dem die Zeit stillsteht (198).

Indien / Kolonialismus

Ein zentrales Thema ist der indische UnabhÀngigkeitskampf. Dargestellt werden etwa der Generalstreik Gandhis 1918 (1942) und das Amritsar-Massaker, aber auch der Zusammenschluss Freier Islam und seine Zerschlagung durch die Dogmatiker (1942). Die Zerrissenheit dokumentiert sich in einer Radikalisierung beider Seiten. Auch die Hindu-BrandanschlÀge und Erpressungen der Moslems im Jahre 1945 werden erzÀhlt (93 ff.).

„Teilung bringt Zerstörung! Moslems sind die Juden Asiens!“

– Flugblatt, S. 95

Das Haus der Familie in Bombay wird zum Gleichnis fĂŒr die Übergabe Indiens durch England. Die Sinais und ihre Nachbarn (→ die reichen Inder) kaufen von William Methwold, einem Nachfahren des BegrĂŒnders des englischen Bombay (→ den EnglĂ€ndern) ein Anwesen mit vier HĂ€usern. Nach den Bedingungen des Kaufvertrages mĂŒssen die HĂ€user mitsamt der Einrichtung ĂŒbernommen werden und der gesamte Hausrat muss von den neuen EigentĂŒmern behalten werden, jedenfalls bis zum EigentumsĂŒbergang. Die neuen Besitzer passen sich an die Umgebung an und ĂŒbernehmen so, mit wenigen Ausnahmen (Amina), die englische Lebens- und Denkweise bis hin zur Nachahmung der gedehnten Oxforder Sprechweise (127).

„[
] der Wind kommt von Norden, und er riecht nach Tod. Diese UnabhĂ€ngigkeit ist bloß fĂŒr die Reichen; die Armen werden dazu gebracht, sich gegenseitig umzubringen, wie Ungeziefer. Im Pandschab, in Bengalen. Aufruhr, Aufruhr, Arme gegen Arme. Es liegt im Wind.“

– S. 139

Indien erscheint als „
 ein mythisches Land, ein Land, das es nie geben wĂŒrde außer durch die Anstrengung eines phĂ€nomenalen kollektiven Willens – außer in einem Traum, den zu trĂ€umen wir alle einwilligten; es war eine Massenphantasie, an der Bengalen und Pandschabis, Madrasis und Jats in verschiedenem Maße teilhatten und die in regelmĂ€ĂŸigen AbstĂ€nden der Sanktionierung und Erneuerung bedurfte, die nur blutige Rituale bereithalten können. Indien, der neue Mythos – eine Gemeinschaftserfindung, in der alles möglich war, eine Fabel, der nur die beiden anderen mĂ€chtigen Phantasien gleichkamen: Geld und Gott.“ (150)

Zufall oder Schicksal?

Das Leben der Romanfiguren steckt voller AbsurditĂ€ten und ZufĂ€lle: Aadam Asiz (Saleems Großvater) deutsche Freunde, die Anarchisten Ilse und Oskar Lubin, kommen auf groteske Art zu Tode. Oskar stolpert ĂŒber seine SchnĂŒrsenkel und wird von einem Stabswagen angefahren. Ilse ertrinkt auf dem See in Kaschmir (vgl. 38). Dagegen rettet dem Großvater ein Niesanfall das Leben, durch den er einer Salve des britischen MilitĂ€rs entgeht (vgl. 46). Menschliche Versuche, das Schicksal zu wenden, produzieren eher zufĂ€llige Folgen oder bleiben wirkungslos. Die Interpretation der historischen und privaten Ereignisse als zielgerichtet erscheint immer ironisch.

„[
] dann sollten wir entweder – optimistisch – aufstehen und jubeln, denn wenn alles vorhergeplant ist, dann haben wir alle einen Sinn, und der Schrecken, uns als Zufallsprodukte ohne warum zu erkennen, bleibt uns erspart; oder wir könnten – pessimistisch -natĂŒrlich auf der Stelle aufgeben, da wir die Sinnlosigkeit von Gedanke Entscheidung Handlung einsehen, weil sowieso nichts, was wir denken, von Belang ist; alles wird sein, wie es sein wird. Wo liegt dann der Optimismus? Im Schicksal oder im Chaos? War mein Vater opti- oder pessimistisch, als meine Mutter ihm ihre Neuigkeit mitteilte (nachdem jeder in der Nachbarschaft sie schon gehört hatte) und er antwortete: ‚Ich habe es dir ja gesagt; es war nur eine Frage der Zeit‘? Die Schwangerschaft meiner Mutter, scheint es, war vom Schicksal bestimmt; meine Geburt jedoch verdankte viel dem Zufall.‘“

– S. 104

Saleem Sinai wurde bei der Geburt vertauscht, seine Familiengeschichte ist die einer fremden Familie, so sehr sie ihn auch prÀgt.

ErzÀhltechnik

Sprache

Mitternachtskinder ist im Original auf Englisch verfasst. Da Rushdie selbst aber aus Indien stammt, einer muslimischen Familie angehört und versucht, fast ein ganzes Jahrhundert indischer Geschichte, aber auch die indischen Lebensweisen, MentalitĂ€ten und Eigenheiten darzustellen, ist seine Sprache durchwoben mit Worten orientalischer, insbesondere sĂŒdasiatischer Herkunft. Dies bezieht sich nicht nur auf die Wortwahl, sondern auch auf die Art zu schreiben. Vor dem Hintergrund orientalischer ErzĂ€hltraditionen spielt der Protagonist Saleem die Rolle des ErzĂ€hlers, Zuhörerin ist seine Frau Padma, deren Reaktionen gelegentlich registriert werden. In seiner Sprunghaftigkeit, Vielfalt, Verworrenheit aber auch Leichtigkeit erinnert der Ton an eine mĂŒndlich vorgetragene ErzĂ€hlung.

Gleichzeitig erfordert die Verwinkelung der Sprache, die reiche Verwendung von Motiven, die besondere Situation des ErzĂ€hlers, an dessen ZuverlĂ€ssigkeit stĂ€ndig gezweifelt werden muss, beim Leser ein erhöhtes Maß an Konzentration und Aufmerksamkeit.

Schreiben erscheint als kreativer Geburtsvorgang, der ErzÀhler ist Schöpfer seiner selbst (vgl. 133).

„[
] der Fötus [
] voll ausgeformt [
] Was [am Anfang] nicht grĂ¶ĂŸer als ein Punkt gewesen war, hatte sich zu einem Komma, einem Wort, einem Satz, einem Absatz, einem Kapitel ausgedehnt; nun entwickelte es sich spurenhaft zu komplexeren Formen, wurde sozusagen ein Buch – vielleicht eine EnzyklopĂ€die –, sogar eine ganze Sprache [
].“

– S. 133

„[
] mein Erbe schließt auch die Gabe ein, wenn nötig, neue Eltern fĂŒr mich zu erfinden. Die Macht, VĂ€tern und MĂŒttern das Leben zu schenken [
].“

– S. 144

Metaphorik

Metaphern werden in den Mitternachtskindern schnell zur RealitĂ€t. So wird die Großmutter von den ungesprochenen Worten wĂ€hrend ihres langen Schweigeprotestes aufgeblĂ€ht (77). Ihre charakterliche VerĂ€nderung erzeugt ein hexenĂ€hnliches Aussehen (77).

Ein zentrales Bild ist die Picklesproduktion. Leben erscheint als gieriges Essen (10), die Vielfalt der Pickles verbildlicht die ÜberfĂŒlle des Lebens. Die „Doppelbegabung fĂŒr Kochkunst und Sprachkunst“ (49), das „Werk des Konservierens“ (49) der Speisen und Geschichten durch das Aufschreiben spiegeln einander. Wie beim Kochen kommt es beim ErzĂ€hlen auf die richtige WĂŒrze an.

„Familiengeschichte hat natĂŒrlich ihre eigenen rituellen DiĂ€tvorschriften. Es wird von einem erwartet, daß man nur die erlaubten Teile, die Halalportionen der Vergangenheit, denen ihre Röte, ihr Blut entzogen ist, herunterschluckt und verdaut. Leider macht das Geschichten weniger saftig, daher bin ich im Begriff, das erste und einzige Mitglied meiner Familie zu werden, das die Gesetze des Halal verhöhnt. Ohne Blut aus dem Körper der ErzĂ€hlung rinnen zu lassen, komme ich zum unaussprechlichen Teil und drĂ€nge vorwĂ€rts.“

– S. 78

Ein anderes Bild ist der Zerfall des ErzÀhlers, er bekommt Risse und spiegelt damit die Zerrissenheit des Subkontinents wider.

Farbsymbolik

Indien als Kosmos der Farben und GerĂŒche prĂ€gt auch die Bildlichkeit des Romans. Kashmir, die Heimat des Großvaters ist ein Gebiet jahrhundertealter Völkermischungen. So verweisen seine blauen Augen und sein roter Bart auf Kaschmirs Eroberungsgeschichte, aber auch auf die kolonialen EnglĂ€nder („Fremdartigkeit der blauen Augen“; 143)

Die weißen Hautflecken der Rani von Cooch Naheen, der Geliebten des Großvaters, dokumentieren ihre vielfĂ€ltigen kulturellen Interessen: „Meine Haut ist der Ă€ußere Ausdruck fĂŒr den Internationalismus meines Geistes“ (58).

Rot ist der Saft, der in den Spucknapf gespuckt wird, sind Jod und Blut, rot vor Wut.

Dunkle und helle Haut sind in Indien soziale MaßstĂ€be. Saleems Mutter, die dunkle Mumtaz, zieht sich durch ihre dunkle Hautfarbe den Hass der Mutter zu.

„Wie schrecklich, schwarz zu sein, Vetterchen, jeden Morgen zu erwachen und davon angestarrt zu werden, den Beweis deiner Minderwertigkeit im Spiegel gezeigt zu bekommen. NatĂŒrlich wissen sie es, selbst Schwarze wissen, daß Weiß schöner ist [
].“

– Cousine Zohra ĂŒber Amina, S. 92

Nur die Götter können diese Kategorisierung umgehen:

„[
] unser Herr Jesus Christus von wunderschöner kristallener blasser himmelblauer Farbe [
].“

– S. 137

Die Farbe erinnert gleichzeitig an den mit blauer Haut dargestellten Liebesgott Krischna und vermeidet den Gegensatz zwischen schwarz und weiß. (vgl. 138 f.) „Safrangelb und grĂŒn“ (153 ff.) sind die Farben Indiens.

Literatur

Ausgaben des Romans

  • Salman Rushdie: Midnight’s Children, Jonathan Cape Ltd., London 1981
  • Salman Rushdie: Mitternachtskinder, Kindler Verlag, MĂŒnchen 1997; Taschenbuchausgabe: Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 2005, ISBN 3-499-23832-2
  • Salman Rushdie: Mitternachtskinder, btb Verlag, MĂŒnchen 2013 3. Auflage; Taschenbuchausgabe ISBN 978-3-328-10380-6

WeiterfĂŒhrende LektĂŒre

  • Batty, Nancy E.: The Art of Suspense. Rushdie’s 1001 (Mid-)Nights. In: Fletcher, M.D. (ed.) Reading Rushdie. Perspectives on the fiction of Salman Rushdie. Amsterdam, Atlanta: Rodopi 1994. 69–81.
  • Harrison, James. Salman Rushdie. New York: Macmillan 1992.
  • Hirsch, Bernd: Geschichte und Geschichten. Zum VerhĂ€ltnis von HistorizitĂ€t, Historiographie und NarrativitĂ€t in den Romanen Salman Rushdies. Winter, Heidelberg 2001, ISBN 3-8253-1248-8 (Zugleich Dissertation an der UniversitĂ€t Heidelberg 1999).
  • Juan-Navarro, Santiago: “The Dialogic Imagination of Salman Rushdie and Carlos Fuentes: National Allegories and the Scene of Writing in Midnight's Children and CristĂłbal Nonato.” Neohelicon 20.2 (1993): 257-312.
  • Petersson, Margareta: Unending Metamorphoses. Myth, Satire and Religion in Salman Rushdie’s Novels. Lund: Lund University Press 1996.
  • Wilson, Keith: Mitternachtskinder and Reader Responsibility. In: Fletcher, M.D. (ed.) Reading Rushdie. Perspectives on the fiction of Salman Rushdie. Amsterdam, Atlanta: Rodopi 1994. 55–67.

Verfilmungen

Mitternachtskinder von Deepa Mehta

Einzelnachweise

  1. ↑ Jawaharlal Nehru: Speech On the Granting of Indian Independence, August 14, 1947. In: Internet Source Books. Abgerufen am 12. Januar 2022.
  2. ↑ Salman Rushdie: Midnight's Children. With a new introduction by the author. Random House, New York 2006, ISBN 0-8129-7653-3, S. ix-xvi.
  3. ↑ Jochen Hieber: Neuer Roman: Gebt Salman Rushdie den Nobelpreis! In: FAZ.NET. ISSN 0174-4909 (faz.net [abgerufen am 13. Januar 2022]).