Mein Leben (Alexander Herzen)

Umschlag der Erstausgabe des ersten Bandes von Herzens Memoirenwerk

Mein Leben[1] (mit dem Originaltitel russisch Былое и думы / Byloje i dumy, wiss. Transliteration Byloe i dumy) ist ein berühmtes Memoirenwerk[2] von Alexander Herzen (1812–1870), das nicht nur als der Höhepunkt von Herzens Werk gilt, sondern auch als ein bedeutendes Dokument der russischen Geschichte und Kultur. Seine Lebenserinnerungen wurden in den Jahren 1852–1868 geschrieben und sind Nikolai Ogarjow (1813–1877) gewidmet.[3] Das Werk liefert ein ungewöhnlich breites Panorama des russischen und europäischen Lebens des 19. Jahrhunderts.[4]

Autor

Nikolai Ogarjow (links) und Alexander Herzen

Alexander Iwanowitsch Herzen, der vielfach als der geistige Vater des russischen Sozialismus angesehen wird, war der uneheliche Sohn der aus Stuttgart stammenden Luise Haag und des russischen Adligen Iwan Alexejewitsch Jakowlew. Nach dem Kosenamen seiner Mutter („Mein Herz“) bildete sein Vater seinen Namen.[5]

Er war wegen freisinniger Äußerungen wiederholt in Haft und wurde wegen sozialistischer Propaganda in den Osten Russlands verbannt. Seit 1842 war er als Verfasser geistvoller Schriften bekannt, bis er bald nach dem Tod seines Vaters 1847 als überzeugter Westler auswanderte, 1853 eine Druckerei[6] in London gründete, mit der er gegen das Autokratenregime in seiner Heimat tätig wurde, und durch seine Schriften in englischer, russischer und deutscher Sprache internationale Bedeutung gewann. Seit 1864 lebte er in der Schweiz, später in Frankreich, zuletzt stand er im Verkehr mit Bakunin, sich den Anarchisten nähernd.

Seine Memoiren sind nicht nur eine Aufzeichnung seines eigenen Lebens, das er zunächst in Russland im Schatten der zaristischen Unterdrückung und später im selbstgewählten Exil in verschiedenen Ländern Europas verbrachte, sondern auch eine unvergleichliche Darstellung der großen Ereignisse und Themen seiner Zeit.

Als ein scharfer Kritiker des Russischen Reiches hatte Herzen einen großen Einfluss auf die junge Generation russischer Dichter, sogar Fjodor Dostojewski beurteilte seine Werke als "the best philosophy not only in Russia but in Europe"[7].

Herzen wurde schon von seinen Zeitgenossen für seine Aufrichtigkeit, Beobachtungsgabe, sein literarisches Geschick und seine Zivilcourage gelobt. Sein Talent für literarische Porträts erlaubte es ihm, den Charakter von Tschaadajew, W. G. Belinski, T. N. Granowski, M. A. Bakunin, Garibaldi, Owen und vielen anderen seiner Freunde und Weggefährten einzufangen, von Persönlichkeiten der russischen Geschichte und der Weltgeschichte.

Über Petscherin beispielsweise berichtet Herzen, der Hellenist „wurde Jesuitenpater und verbrennt jetzt protestantische Bibeln in Irland“[8].

Gliederung

  1. Teil. Kinderstube und Universität (1812–1834)
  2. Teil. Gefängnis und Verbannung (1834–1838)
  3. Teil. Wladimir am Kljasma (1838–1839)
  4. Teil. Moskau, Petersburg und Nowgorod (1840–1847)
  5. Teil. Paris – Italien – Paris (1847–1852)
  6. Teil. England (1852–1864)
  7. Teil. Die Freie Russische Druckerei und "Die Glocke"
  8. Teil. Bruchstücke 1865–1868

Es ist weiter folgendermaßen untergliedert:[9]

INHALTSÜBERSICHT


Vorwort
    Erster Teil. Kinderstube und Universität (1812–1834)
        Kapitel I.
        Kapitel II.
        Kapitel III.
        Kapitel IV. Nik und die Sperlingsberge
        Kapitel V.
        Kapitel VI.
        Kapitel VII.
        Anhänge
        Anmerkungen zum ersten Teil
    Zweiter Teil. Gefangenschaft und Exil (1834–1838)
        Kapitel VIII.
        Kapitel IX.
        Kapitel X.
        Kapitel XI.
        Kapitel XII.
        Kapitel XIII.
        Kapitel XIV.
        Kapitel XV.
        Kapitel XVI. Alexander Lawrentewitsch Witberg
        Kapitel XVII.
        Kapitel XVIII. Der Beginn des Lebens in Wladimir
        Anhänge.
        Anmerkungen zum zweiten Teil
    Dritter Teil. Wladimir an der Klajma (1838–1839)
        Kapitel XIX. Die Fürstin und die Prinzessin
        Kapitel XX. Die Waise
        Kapitel XXI. Die Trennung
        Kapitel XXII. Moskau ohne mich
        Kapitel XXIII. Der 3. März und der 9. Mai 1838
        Kapitel XXIV. Der 13. Juni 1839
        Anhänge.
        Anmerkungen zum dritten Teil
    Vierter Teil. Moskau, Petersburg und Nowgorod (1840–1847)
        Kapitel XXV.
        Kapitel XXVI.
        Kapitel XXVII.
        Kapitel XXVIII.
        Kapitel XXIX. Die Unseren
        Kapitel XXX. Die anderen
        Kapitel XXXI.
        Kapitel XXXII.
        Kapitel XXXIII.
        N. Ch. Ketscher (1842–1847)
        Eine Episode aus dem Jahr 1844
        Anhänge
        Anmerkungen zum vierten Teil.
    Fünfter Teil. Paris – Italien – Paris (1847–1852).
        Vorwort
        Vor und nach der Revolution
            Kapitel XXXIV. Die Reise
            Kapitel XXXV. Honigmond der Republik
            Westliche Arabesken. Erstes Heft
            Kapitel XXXVI.
            Kapitel XXXVII.
            Kapitel XXXVIII.
            Westliche Arabesken. Zweites Heft
            Kapitel XXXIX.
            Kapitel XL.
            Kapitel XLI.
            Überlegungen zu den aufgeworfenen Fragen
            Kapitel XLII.
            Der Bericht über ein Familiendrama
                Kapitel I. 1848
                Kapitel II.
                Kapitel III.
                Kapitel IV. Noch ein Jahr (1851)
                Kapitel V.
                Kapitel VI. Oceano nox (1851)
                Kapitel VII. 1852
                Kapitel VIII.
                Anhang
        Russische Schatten
            Russische Schatten. I. N. I. Sasonow
            Russische Schatten. II. Engelsons
        Anhänge
        Anmerkungen zu Teil Fünf
    Sechster Teil. England (1852–1864)
        Kapitel I. Londoner Nebel
        Kapitel II. Berghöhen
        Kapitel III. Emigration in London
        Kapitel IV. Zwei Prozesse
        Kapitel V. "Not guilty"
        Kapitel VI.
        Kapitel VII. Deutsche im Exil
        Kapitel VIII.
        Kapitel IX. Robert Owen
        Kapitel X. Camicia rossa
        Anhänge
        Anmerkungen zu Kapitel sechs
    Siebenter Teil. Die freie russische Druckerei und "Die Glocke".
        Kapitel I. Apogäum und Perigäum (1858–1862)
        Kapitel II. W. I. Kelsijew
        Kapitel III. Junge Auswanderer
        Kapitel IV. M. Bakunin und die polnische Sache
        Kapitel V. Dampfschiff "Ward Jackson" von R. Weatherley & Cie
        Kapitel VI. Pater W. Petscherin
        Kapitel VII. I. Golowin
        Anmerkungen zu Teil Sieben
    Achter Teil. Bruchstücke (1865–1868)
        Kapitel I. Ohne Verbindung
        Kapitel II. Venezia la bella
        Kapitel III. La belle France
        Anmerkungen zu Teil Acht
    Alte Briefe (Ergänzung zu "Byloe y dumy")
Anmerkungen

Bedeutung

Der russische Literaturhistoriker D. S. Mirsky (1890–1939) hebt in seiner Geschichte der russischen Literatur die Bedeutung des Werkes folgendermaßen hervor:

„Для большинства читателей эта автобиография остаётся главной книгой Герцена. Её привлекательность главным образом в её свободе и очевидной искренности. Не то, чтобы в ней вовсе не было позы, — Герцен слишком француз и слишком романтик, чтобы обойтись без позы. Герцен — один из последних великих русских писателей, выросших на французском языке, и ничуть не боится честного и неприкрытого галлицизма. Это язык человека, который одинаково свободно говорит на многих языках. Но это именно его, герценовский язык, и он обладает совершенно стихийной жизненной силой. В нём очарование свободы и непосредственности, это текучая и богатая речь страстного, блестящего собеседника.

Герцен — великий портретист-импрессионист, и его впечатления (impressions) об отце и других родных, о московских идеалистах и вождях европейской революции незабываемо-живые. Легкость его прикосновения, скользящего, без всякого нажима, сообщает этим портретам на диво убедительную подвижность. Не менее замечательны те пассажи книги, где он подводит под свой рассказ широкую историческую базу; в первых частях, повествующих о его жизни до ссылки, содержится самый широкий, самый правдивый и самый проницательный обзор русской социальной и культурной истории первой половины девятнадцатого столетия. Это великая историческая классика.[10]

dt. Übers.: Für die meisten Leser bleibt diese Autobiografie das wichtigste Buch von Herzen. Ihr Reiz liegt vor allem in ihrer Freiheit und offensichtlichen Aufrichtigkeit. Nicht, dass es überhaupt keine Pose gäbe - Herzen ist zu französisch und zu sehr Romantiker, um auf Pose zu verzichten. Herzen ist einer der letzten großen russischen Schriftsteller, die mit der französischen Sprache aufgewachsen sind, und er scheut sich keineswegs vor einem ehrlichen und unverhohlenen Gallizismus. Es ist die Sprache eines Mannes, der ebenso viele Sprachen beherrscht. Aber es ist eben seine, Herzens Sprache, und sie hat eine ganz und gar spontane Vitalität. Sie hat den Charme von Freiheit und Unmittelbarkeit, diese flüssige und reichhaltige Rede eines leidenschaftlichen, brillanten Gesprächspartners.

Herzen ist ein großer impressionistischer Porträtist, und seine Eindrücke (frz. impressions) über seinen Vater und andere Verwandte, über Moskauer Idealisten und Führer der europäischen Revolution sind unvergesslich lebendig. Die Leichtigkeit seiner Berührung, das Gleiten ohne Druck, verleiht diesen Porträts eine wunderbar überzeugende Flüssigkeit. Nicht weniger bemerkenswert sind die Passagen des Buches, in denen er seine Geschichte auf eine breite historische Basis stellt; die ersten Teile, die sein Leben vor dem Exil schildern, enthalten den breitesten, wahrheitsgetreuesten und eindringlichsten Überblick über die russische Sozial- und Kulturgeschichte der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Es ist ein großer historischer Klassiker.

Literatur

russisch

Übersetzungen (in Auswahl)

  • Aus den Memoiren eines Russen:
    • Im Staatsgefängnis und in Sibirien, Hamburg 1855 online lesen
    • 3. Folge: Jugenderinnerungen, Hamburg 1856 online lesen
    • 4. Folge: Gedachtes und Erlebtes, Hamburg 1859 online lesen
    • 5. & 6. Teil: Erinnerungen (Paris-London 1847–55), Berlin 1907 online lesen
  • Mein Leben: Memoiren und Reflexionen. 3 Bände. (Originaltitel: Byloe i dumy) Hrsg. von Eberhard Reissner. Aus dem Russischen übersetzt von Hertha von Schulz. Aufbau-Verlag Berlin 1962/1963.
  • (englische Übersetzung) My Past and Thoughts; The Memoirs of Alexander Herzen. Herzen, Alexander; Garnett, Constance (Translator); Higgens, Humphrey (Revision); Berlin, Isaiah (Introduction). Chatto & Windus / Alfred A. Knopf, London / New York, 1968 (A revision of the translation originally published 1924–27.)

Sekundärliteratur

Wikisource: Былое и думы (Герцен) – Quellen und Volltexte (russisch)

Einzelnachweise und Fußnoten

  1. Die moderne dreibändige Ausgabe im Aufbau-Verlag Berlin titelt: Mein Leben: Memoiren und Reflexionen.Kindlers Literatur Lexikon (dtv) betitelt es im Artikel Byloe i dumy auf Deutsch mit „Erlebtes und Gedachtes“.
  2. Kindlers Literatur Lexikon verortet Herzens berühmtes Memoirenwerk als "persönliches Bekenntnis, Zeitgeschichte und politisches Testament in einem - [es] unterscheidet sich von ähnlichen autobiographischen Schriften dadurch, dass es von Anfang an als Kampfschrift gedacht war, gerichtet einmal gegen die feudale zaristische Gesellschaftsordnung Rußlands, zum anderen gegen die kapitalistischen Verhältnisse in Westeuropa" (M. Gru. (= Manfred Grunert): Byloe i dumy, in: Kindlers Literatur Lexikon (dtv), Bd. 5, S. 1705).
  3. Der gemeinsam mit Herzen Herausgeber der oppositionellen Zeitung Kolokol (dt.: Die Glocke) war, die in Russland weite Verbreitung fand. Auch der Almanach Polarstern wurde gemeinsam von ihnen herausgegeben.
  4. vgl. Nikolaj Plotnikov, Alexander Haardt: Gesicht statt Maske: Philosophie der Person in Russland. 2012, S. 51: "Seine Autobiographie Byloe i dumy (dt.: Erlebtes und Gedachtes, 1854–70) gibt einen detaillierten Einblick in die Geschichte der europäischen Revolutionen von 1848, die Entwicklung der sozialistischen Bewegung sowie in die sozialen und politischen Zustände des autokratischen Russland."
  5. vgl. Leo Sievers: Deutsche und Russen: tausend Jahre gemeinsame Geschichte von Otto dem Grossen bis Gorbatschow. 1991, S. 343: Der Vater gab dem Jungen den Nachnamen »Herzen«, weil er Louise immer »Mein Herz« nannte.
  6. Die Free Russian Press (russisch Вольная русская типография).
  7. zit. nach Neil Cornwell: Reference Guide to Russian Literature. 2013 (in Teilansicht)
  8. Alexander Herzen: Mein Leben (Aufbau-Verlag Berlin), Bd. I, S. 684.
  9. gertsen.lit-info.ru / Alexander Herzen: Mein Leben. Memoiren und Reflexionen. Aufbau-Verlag Berlin. 3 Bände
  10. Мирский Д. С. История русской литературы с древнейших времён до 1925 года. Online