Israelitische Kultusgemeinde Wien

Stadttempel der IKG in der Seitenstettengasse
Haupteingang des Stadttempels
Gedenktafel der Israelitischen Kultusgemeinde Wien bei der Gedenkstätte Mauthausen

Die Israelitische Kultusgemeinde Wien (IKG) ist die jüdische Gemeinde von Wien. Sie zählt heute rund 8.000 Mitglieder und repräsentiert seit jeher fast das gesamte Judentum in Österreich, das seit 1938 nur in wenigen anderen Städten in Österreich kleinere Gemeinschaften (Israelitische Kultusgemeinden) zählt.

Organisation

Die Israelitische Kultusgemeinde bietet ihren Mitgliedern verschiedene Dienstleistungen in sozialen, religiösen und Bildungsangelegenheiten an. Offizielles Organ der IKG Wien ist die monatlich erscheinende Zeitschrift Die Gemeinde – Insider, die auf der Website der IKG Wien im Archiv online nachzulesen ist.

Die Wiener Kultusgemeinde ist auch mit den allgemeinen Angelegenheiten der Israelitischen Religionsgesellschaft in Österreich betraut, jener Körperschaft, in Form derer das Judentum seit 1890 in Österreich eine gesetzlich anerkannte Religionsgesellschaft darstellt.[1]

Die Anlaufstelle für jüdische NS-Verfolgte in und aus Österreich unterstützt und berät Betroffene und ihre Angehörigen in Bezug auf Restitution und Entschädigungszahlungen. Präsident der Kultusgemeinde ist seit 2012 Oskar Deutsch, Oberrabbiner war von 2016 bis 2019 Arie Folger und Gemeinderabbiner ist Schlomo Hofmeister.

Am 24. Juni 2019 wurde per Aussendung der IKG bekanntgegeben, dass Folgers Amtszeit als Wiener Oberrabbiner einvernehmlich beendet wurde. Im Februar 2020 wurde Jaron Engelmayer zu seinem Nachfolger als Wiener Oberrabbiner ab August 2020 bestellt.[2]

Im März 2012 stellte die reformjüdische Gemeinde Or Chadasch (hebräisch: ‚neues Licht‘) einen Antrag auf die Einrichtung einer eigenen Kultusgemeinde.[3] Der Antrag des Vereins Or Chadasch wurde im Juni 2012 per Bescheid vom Unterrichtsministerium abgelehnt, daher wird es in Österreich vorerst keine eigene liberale jüdische Kultusgemeinde geben. Das Ministerium begründete die Entscheidung damit, dass das Selbstbestimmungsrecht von gesetzlich anerkannten Religionsgesellschaften das Recht der inneren Organisation umfasst und darunter auch die Aufnahme von Mitgliedern fällt. Der Hintergrund: Ein Teil der Mitglieder von Or Chadasch wird von der Israelitischen Religionsgesellschaft nicht anerkannt. Dies sind jene, die nach liberalem Ritus zum Judentum übergetreten sind und vom Rabbinat der IKG Wien nicht anerkannt werden. Wie Oberrabbiner Paul Chaim Eisenberg betonte, lag diese Entscheidung darin begründet, dass das Wiener Rabbinat sonst seinerseits nicht vom Oberrabbinat Israel und der Europäischen Rabbinerkonferenz anerkannt würde.[4]

Aufgrund eines Beschlusses der IKG sollen ihre Mitglieder keinerlei Kontakte zu FPÖ-Politikern haben.[5]

Geschichte

Die Geschichte der jüdischen Bevölkerung von Wien geht zurück bis zu der Römerzeit. Die jüdische Bevölkerung von Wien konnte sich auf Grund von antisemitischen Diskriminierungen von staatlicher und bürgerlicher Seite nicht organisieren.

Erst mit dem Toleranzpatent von Kaiser Joseph II. konnte sich die Situation verbessern, beschränkte Religionsausübung aber auf den privaten Kreis. Nach 1848 kam es zur Emanzipierung der jüdischen Bevölkerung. In einer Ansprache am 3. April 1849 verwendete der junge Kaiser Franz Joseph I. die Worte: „Israelitische Gemeinde von Wien“. Drei Jahre später trat 1852 ein provisorisches Gemeindegesetz in Kraft, dieses Jahr wird als das Gründungsjahr der Wiener Kultusgemeinde angesehen. In dem bereits existierenden Baukomplex des Wiener Stadttempels in der Seitenstettengasse wurden die Räumlichkeiten und Büros der Kultusgemeinde eingerichtet. 1890 erfolgt dann die endgültige staatliche Anerkennung des mosaischen Glaubens in Österreich-Ungarn (Israelitengesetz).[1]

Die Wiener Gemeinde zählte vor dem „Anschluss Österreichs“ an das Deutsche Reich im März 1938 rund 185.000 Mitglieder. 1938 wurde die Israelitische Kultusgemeinde von den Nationalsozialisten geschlossen. Im Mai 1938 wurde sie unter dem Namen Jüdische Gemeinde Wien wiedereröffnet, um als Pufferorganisation zwischen dem NS-Regime und der jüdischen Bevölkerung zu wirken und für die Zentralstelle für jüdische Auswanderung unter Zwang die Emigrationen und später auch die ersten Deportationen zu organisieren. Siehe auch Österreich in der Zeit des Nationalsozialismus. In Wien endete der Krieg im April 1945.

Seit 1945 nennt sich die Gemeinde wieder Israelitische Kultusgemeinde Wien.

Am 29. August 1981 fand ein Terroranschlag mit Handgranaten und Schusswaffen auf die in Wien Stadttempel genannte Synagoge in der Seitenstettengasse statt, der zwei Tote und 21 Verletzte zur Folge hatte. Es wird davon ausgegangen, dass der Anschlag auf das Konto der palästinensischen Extremistengruppe Fatah-Revolutionärer Rat des Terroristen Abu Nidal geht. Seither herrschen strenge Sicherheitsvorkehrungen am Eingang, die Seitenstettengasse wird von der Polizei geschützt.[6]

Heute ist die IKG Wien für Wien, Niederösterreich und das Nordburgenland zuständig, seit der Fusion mit der IKG Graz[7] im Mai 2013[8] auch für die Steiermark, Kärnten und Südburgenland. Im März 2024 beschlossen die Vorstände der Kultusgemeinden von Wien und Salzburg die Erweiterung der Israelitischen Kultusgemeinde Salzburg um die Bundesländer Steiermark und Kärnten.[9]

Präsidenten der IKG Wien seit 1853

Oskar Deutsch, Präsident seit 2012

Rabbiner der IKG Wien seit 1824

Paul Chaim Eisenberg, Oberrabbiner von 1983 bis 2016, auf der Wiener Buchmesse 2017

Archiv der IKG

Das Archiv der Wiener Kultusgemeinde ist das einzige bekannte vollständig erhaltene Archiv vom Beginn einer jüdischen Gemeinde bis zur Nachkriegszeit und somit eines der bedeutendsten im deutschsprachigen Raum. Sitzungsprotokolle, Beschlüsse, Protokolle, Berichte, Briefe, Auswanderungs- und Finanzunterlagen, Deportationslisten, Karteien, Bücher, Fotografien, Pläne und Plakate dokumentieren die Geschichte der IKG und ihrer Mitglieder. Die ältesten Dokumente stammen aus dem 17. Jahrhundert. 1816 gilt als das offizielle Gründungsjahr des Archivs. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde der Umgang mit Akten zunehmend professionalisiert.

Die zwischen 1938 und 1945 entstandenen Karteien und Akten bildeten für die Nationalsozialisten die Grundlage für die Verwaltung der Emigration und Deportation der österreichischen Juden. Heute dienen die Dokumente für Auskünfte über das Schicksal von Vertriebenen und Ermordeten und zur Unterstützung der Restitutions- und Entschädigungsansprüche von Überlebenden.

Literatur

Einzelnachweise

  1. a b Gesetz vom 21. März 1890, betreffend die Regelung der äußeren Rechtsverhältnisse der israelitischen Religionsgesellschaft. StF: RGBl. Nr. 57/1890; novelliert April 2012 (i.d.g.F. online, ris.bka).
  2. Engelmayer neuer Oberrabbiner der IKG Wien. In: ORF.at. 25. Februar 2020, abgerufen am 25. Februar 2020.
  3. ORF-Religion: Liberale Juden wollen eigene Kultusgemeinde; abgerufen am 12. April 2012
  4. Wiener Zeitung, Alexia Weiss: Die liberale Kultusgemeinde bleibt eine Entscheidung der IKG; abgerufen am 12. Dezember 2012
  5. IKG: Boykott der FPÖ ist aufrecht. Abgerufen am 4. Mai 2018.
  6. hagalil.com | Der Terroranschlag auf eine Wiener Synagoge
  7. Grazer Synagoge: "Das Haus ist nicht einmal für das eigene Volk offen". Colette M. Schmidt in Der Standard online, 5. Februar 2015.
  8. T&ag der offenen Tür in der Grazer Synagoge. (Memento vom 13. Mai 2016 im Internet Archive) IKG Wien, o. D. (13. März 2016).
  9. Israelitische Kultusgemeinde Salzburg um zwei Länder erweitert. In: salzburg24.at. 19. März 2024, abgerufen am 19. März 2024.
  10. Bericht: Oberrabbiner Arie Folger kündigt. Abgerufen am 25. Juni 2019.
  11. Engelmayer neuer Oberrabbiner der IKG Wien. In: ORF.at. 25. Februar 2020, abgerufen am 25. Februar 2020.
  12. Oberrabbiner Engelmayer tritt Amt an. In: ORF.at. 21. August 2020, abgerufen am 21. August 2020.