Großmacht
Als Großmacht bezeichnet man einen Staat, der einen wesentlichen geopolitischen Einfluss hat.
Begriff
Begriffsbestimmung
Der Brockhaus definiert den Begriff „Großmacht“ als Bezeichnung „für einen Staat, dessen Stellungnahme im internationalen Leben (Diplomatie, Friedensschlüsse, Kongresse) berücksichtigt werden musste, weil er sich sogar im Kampf mit der Mehrzahl der anderen Großmächte machtmäßig behaupten konnte“.[1]
Nach Erich Bayer werden diejenigen Staaten als Großmächte bezeichnet, die „einen bestimmenden Einfluss auf die Weltpolitik“ haben. Dies waren im ausgehenden 18. Jahrhundert (nach dem Ausscheiden Schwedens und Spaniens) Großbritannien, Frankreich, Russland, Preußen und Österreich. Im 19. und 20. Jahrhundert kamen die USA und Japan dazu.[2]
Häufig wird als Kriterium für den Begriff angeführt, dass eine defensive Großmacht allein gegen jeden anderen Staat militärisch bestehen kann. Eine offensive Großmacht hingegen muss in der Lage sein, weltweit militärisch Einfluss zu üben. „Eine eindeutige und allgemein akzeptierte Definition existiert jedoch nicht, so dass es im Einzelfall umstritten sein kann, ob ein Staat als Großmacht gelten kann.“[3]
Der Begriff kam im frühen 19. Jahrhundert auf,[4] als die Hegemonie Frankreichs am Ende der napoleonischen Herrschaft durch die Pentarchie abgelöst wurde, eine beschränkte Kooperation der Siegermächte Russland, Österreich, Großbritannien und Preußen mit dem besiegten Frankreich, die sich auf dem Wiener Kongress herausbildete. Zunächst wurden nur diese fünf Mächte so bezeichnet.
Der Begriff ist nicht genau definiert, wird aber seit dieser Zeit auch zur Charakterisierung früherer und späterer Machtkonstellationen angewandt.[5]
Begriffsabgrenzung
Im Deutschen werden zur Kennzeichnung einer Großmachtstellung hauptsächlich Wörter auf -macht verwendet, unter anderem Großmacht, Weltmacht und Supermacht, wobei der erste Wortteil grob die Größe der Interessensphäre sowie den beigemessenen staatlichen Einfluss beschreibt.
Die Bezeichnungen Großmacht und Weltmacht sind an die Stelle des älteren Begriffs Reich getreten, wie zum Beispiel beim Römischen Reich. Der Begriff Supermacht bezieht sich ausschließlich auf die bipolare Weltordnung während des sogenannten Kalten Krieges mit den zwei überragenden Konkurrenten USA und Sowjetunion, bzw. nach dem Zerfall der Sowjetunion nur auf die Vereinigten Staaten allein.
Anwendung des Begriffs
Eine Unterscheidung zwischen großen Mächten und kleineren Spielbällen der Weltpolitik nimmt bereits Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr. Thukydides in seinem Melierdialog vor, indem er den Athenern den Satz in den Mund legt: „Die Starken tun, was sie wollen, die Schwachen leiden, was sie müssen!“[6]
Die Begriffsbildung Großmacht bleibt indes der Neuzeit vorbehalten und wird deshalb nur selten zur Charakterisierung der Machtgewichtung im Altertum und Mittelalter herangezogen, wo man eher von Großreichen spricht. So werden in der historischen Fachliteratur das alte Ägypten, Babylon, das Assyrische Reich, das Reich der Hethiter, das Alt- bzw. Neupersische Reich, Karthago, Athen, Sparta, Makedonien bzw. das Alexanderreich, das Seleukidenreich, das Römische Reich und das Kaiserreich China als Großreiche bezeichnet.
Als „Großmächte“ des Frühmittelalters gelten das zum Byzantinischen Reich gewandelte Römische Reich, das Fränkische Reich, das islamische Kalifat und weiterhin China. Im Hochmittelalter entstanden aus dem Frankenreich das Heilige Römische Reich und Frankreich. Das Osmanische Reich verdrängte das Byzantinische Reich als Großmacht. Für die Zeit ihrer Blüte hatten die beiden oberitalienischen Stadtrepubliken Genua und Venedig eine Vormachtstellung im Mittelmeerraum, Ägypten erlangte in der Zeit der Ayyubiden und der Mamluken eine Großmachtstellung, die Mongolenreiche für kurze Zeit sogar eine Hegemonie in Mittel- und Ostasien. Auf dem amerikanischen Doppelkontinent etablierten sich im 15. Jahrhundert die Reiche der Inka und Azteken.
Großmächte in der Epoche der Neuzeit
In der frühen Neuzeit hatten auf Grund ihrer Kolonien auch Spanien und Portugal weltweiten Einfluss, später gewannen die Niederlande, Russland, Schweden, Polen-Litauen, Österreich, Frankreich, England und nach dem Siebenjährigen Krieg auch Preußen eine Großmachtstellung. Mit dem Verlust einiger ihrer Kolonien bzw. Gebiete im 18. und 19. Jahrhundert verloren die iberischen Länder und die Niederlande jedoch diesen Status wieder, Schweden wurde im Großen Nordischen Krieg durch die neue Großmacht Russland zurückgedrängt. Polen-Litauen verschwand nach den drei Teilungen Polens von der Landkarte. Auf dem indischen Subkontinent etablierte sich seit dem 16. Jahrhundert das Mogulreich als Regionalmacht.
Seit Ende des Siebenjährigen Krieges bestimmte die europäische Pentarchie der zur Zeit des Wiener Kongresses erstmals wörtlich so genannten fünf Großmächte: „Die wichtigsten Entscheidungen [auf dem Wiener Kongress] fielen im Komitee der fünf Großmächte“: Großbritannien, Österreich, Preußen, Russland und Frankreich.
Im Europäischen Ausschuss der acht Signatarmächte des 1. Pariser Friedens saßen darüber hinaus noch Spanien, Portugal und Schweden.[7] Das ehemals so mächtige Osmanische Reich galt nur noch als Regionalmacht (Kranker Mann am Bosporus).
In der Epoche des Imperialismus kamen zu den bisherigen fünf europäischen Großmächten zwei außereuropäische Staaten hinzu, die auf Grund ihrer frühen Industrialisierung Großmachtstatus erwarben: Die Vereinigten Staaten von Amerika und Japan.[8]
Mit der Gründung des Deutschen Bundes trat nach zeitgenössischem Urteil Deutschland wieder als „Gesamtmacht in die Reihe der Mächte“,[9] die als Hauptmächte,[10] als grandes puissances oder als europäische Mächte von den Staaten zweiter Ordnung abgehoben wurden.[11] In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stieg Italien in den Kreis der Großmächte auf, Österreich wandelte sich zu Österreich-Ungarn und Preußen ging im Deutschen Kaiserreich auf. Außerhalb Europas gewannen die Vereinigten Staaten nach dem Sezessionskrieg und Japan nach dem Russisch-Japanischen Krieg eine Großmachtstellung.
Vor dem Beginn des Zweiten Weltkrieges galten das Deutsche Reich, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, die Sowjetunion und die USA als Großmächte. Die Hauptsiegermächte behielten nach Kriegsende diesen Status. Der Besitz von Atomwaffen wurde ein sehr wichtiges Großmachtkriterium neben dem Status als Ständiges Mitglied des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen. Diesen hatten nach 1945 die USA, die Sowjetunion, Großbritannien, Frankreich und China[12] inne und bildeten insofern nominal die neue „Welt-Pentarchie“. Seit dem Kalten Krieg waren die USA und die Sowjetunion die dominierenden Großmächte, weshalb man sie auch als Supermächte bezeichnete. Bisweilen wird Russland auch heute noch als Supermacht angesehen, in erster Linie deshalb, weil das Land bis heute neben den USA das größte Nuklearwaffenarsenal besitzt.
Heutige Situation
Allein der Besitz von Atomwaffen ist kein Kriterium für eine Großmacht. Dagegen verleiht ein ständiger Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen wegen des Vetorechtes einen bevorrechtigten Status. Daher darf man den Reformplan der G4-Staaten Japan, Indien, Brasilien und Deutschland, der für sie einen ständigen Sitz vorsieht, als Anspruch auf eine Großmachtstellung verstehen.[13]
Ähnliche Begriffe
Hypermacht ist eine 1999 entstandene Begriffsschöpfung des damaligen französischen Außenministers Hubert Védrine, um die damals dominierende Stellung der USA in der Politik, Wirtschaft, Kultur, in den Massenmedien und beim Militär zu kritisieren.
Siehe auch
Literatur
- Karl-Georg Faber: Von den ‚Großen Mächten‘ zu den ‚Weltmächten‘. Abschnitt 5 des Artikels Macht, Gewalt. In: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Band 3, Stuttgart 1982, S. 930–935.
- Eva Marlene Hausteiner Sebastian Huhnholz (Hrsg.): Imperien verstehen. Theorien, Typen, Transformationen. Nomos, Baden-Baden 2019.
- Ulrike von Hirschhausen, Jörn Leonhard: Empires. Eine globale Geschichte 1780–1920. C. H. Beck, München 2023.
- Paul Kennedy: Aufstieg und Fall der großen Mächte. 1987, ISBN 3-596-14968-1.
- Henry A. Kissinger: Das Gleichgewicht der Großmächte. Metternich, Castlereagh und die Neuordnung Europas 1812–1822. 2. Auflage, Zürich 1990.
- Ulrich Menzel: Die Ordnung der Welt. Suhrkamp, Berlin 2015, ISBN 978-3-518-42372-1.
- Herfried Münkler: Imperien. Die Logik der Weltherrschaft – vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten. Rowohlt, Berlin 2005, ISBN 3-87134-509-1.
Weblinks
Einzelnachweise
- ↑ Brockhaus Enzyklopädie in 20 Bänden. 17., völlig neu bearb. Aufl., Band 7, F.A. Brockhaus, Wiesbaden 1969, S. 711.
- ↑ Erich Bayer (Hrsg.): Wörterbuch zur Geschichte. Begriffe und Fachausdrücke (= Kröners Taschenausgabe. Band 289). Kröner, Stuttgart 1960, S. 185.
- ↑ Frank Schimmelfennig: Internationale Politik (= Grundkurs Politikwissenschaft, Band 3107). UTB, Paderborn 2008, ISBN 978-3-506-76581-9, S. 74.
- ↑ Während Adelungs Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart in der Auflage von 1811 das Stichwort Großmacht noch nicht anführt, sondern nur großmächtig und Großmächtigkeit, schreibt Joseph Görres (im Rheinischen Merkur vom 23. September 1815) in den Bemerkungen über die gegenseitigen Verhältnisse Frankreichs und der Verbündeten: „Aus Frankreichs Ansicht ist Preußen eine nagelneue, aber noch nicht nagelfeste Großmacht.“ Das sei „eine Formulierung, in der das Wort Großmacht eindeutig nicht mehr große Macht, sondern einen mächtigen Staat bezeichnet.“ (Walter Böhme: Zur Entwicklung des Begriffs Großmacht, September 2011). Dort findet sich auch ein Hinweis auf Adelungs Lexikon.
- ↑ Ein früher Beleg ist in der Brockhaus Enzyklopädie von 1823 unter dem Stichwort Congreß, auf den Friedenskongress von Münster und Osnabrück von 1648 bezogen, zu finden: „Das eben thronlos gewordene England nahm keinen Theil daran, und Spanien erschien darauf eigentlich nicht mehr als entscheidende Großmacht neben Östreich, Frankreich und Schweden.“ (Allgemeine Encyklopädie der Wissenschaften und Künste herausgegeben von Johann Samuel Ersch, Johann Gottfried Gruber u. a. Teil 22, Brockhaus Verlag 1832 S. 105)
- ↑ Thukydides: Der Peloponnesische Krieg. V 89.
- ↑ Geiss, Imanuel: Geschichte im Überblick. Daten und Zusammenhänge der Weltgeschichte. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1995, S. 404.
- ↑ Imanuel Geiss: Geschichte im Überblick. Daten und Zusammenhänge der Weltgeschichte. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1995, S. 437: „Im Zeitalter des Imperialismus stießen zwei überseeische Großmächte mit Kriegen als neue dynamisch expandierende Machtzentren im Fernen Osten und im Fernen Westen zu den europäischen Großmächten – Japan und die USA.“
- ↑ Art. 2 der Wiener Schlussakte von 1820.
- ↑ Arnold Heeren: Der Deutsche Bund in seinen Verhältnissen zu dem Europäischen Staatensystem bei der Eröffnung des Bundestages dargestellt. 1817, S. 430.
- ↑ Faber S. 931.
- ↑ Ab 1971 trat die Volksrepublik China an die Stelle Taiwans (vgl. Resolution 2758 der UN-Generalversammlung)
- ↑ Der ehemalige deutsche Außenminister Fischer, der selbst den Reformplan vertreten hat, hält den Anspruch für Deutschland, aber auch für die gegenwärtigen ständigen Sicherheitsratsmitglieder Frankreich und Großbritannien für überzogen: „Und so wird der Rest der Welt eines Tages den Europäern wohl klarmachen müssen, dass das 19. Jahrhundert und auch die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts längst Geschichte sind und die globale Machtverteilung der Gegenwart nicht mehr, wie in der Vergangenheit, von europäischen Mittelmächten bestimmt werden kann.“ (Joschka Fischer: I’m not convinced – Der Irakkrieg und die rot-grünen Jahre. Kiepenheuer & Witsch, 2010, ISBN 3-462-04081-2, S. 299). Daher vertritt er die Position, dass von den europäischen Staaten außer Russland nur der Europäischen Union ein ständiger Sitz im Sicherheitsrat zukommen sollte.