Dynamisches Gleichgewicht (Technische Mechanik)

Als Dynamisches Gleichgewicht bezeichnet man in der Technischen Mechanik den Umstand, dass die resultierende Kraft und die D'Alembertsche Trägheitskraft gleich groß und einander entgegensetzt sind.[1]

Für einen Körper mit der Masse lautet das zweite Newtonsche Gesetz:

.

Dabei ist die äußere Kraft und die Beschleunigung des Schwerpunkts im Inertialsystem. Nachdem die Grundgleichung der Mechanik auf die Form

gebracht wurde, fasst man das negative Produkt aus Masse und Beschleunigung formal als Kraft auf, die als D’Alembertsche Trägheitskraft bezeichnet wird.[2] Man erhält:

Damit ist das dynamische Problem auf ein statisches Problem des Kräftegleichgewichts zurückgeführt. Die Summe von äußerer Kraft und Trägheitskraft ist somit stets Null. Die d’Alembertsche Trägheitskraft greift im Schwerpunkt an, denn sie ist die Folge der Beschleunigung und nicht deren Ursache.[3]

Der Vorteil dieser Vorgehensweise liegt darin, dass die Beschreibung einheitlich in einem Inertialsystem erfolgt und nicht weitere Bezugssysteme eingeführt werden müssen. Für viele Anwendungen in der Technischen Mechanik ist bereits ein erdfestes Bezugssystem, wie dies in der Fahrzeugdynamik nach DIN ISO 8855 festgelegt wurde, mit ausreichender Genauigkeit ein Inertialsystem.

In älterer Literatur wird das dynamische Gleichgewicht öfter auch als D’Alembertsches Prinzip bezeichnet.[4] Dies übersieht jedoch den Unterschied, denn beim D’Alembertschen Prinzip handelt es sich um einen eigenständigen Satz, nach dem die virtuelle Arbeit der Zwangskräfte verschwindet.[5] Das dynamische Gleichgewicht ist dagegen eine Gleichungsumstellung des Newtonschen Bewegungsgesetzes.[6] Wie die folgenden Beispiele zeigen, ist im Gegensatz zum d’Alembertschen Prinzip die Anwendung des Prinzips der virtuellen Arbeit nicht zwingend erforderlich.

Anwendungen

Schräglage eines Motorrads bei Kurvenfahrt

Motorrad bei stationärer Kurvenfahrt

In der Praxis kann man den Umstand ausnutzen, dass Trägheitskraft und äußere Kraft häufig an verschiedenen Punkten angreifen. Beispiel ist die Berechnung der Schräglage eines Motorrads bei stationärer Kurvenfahrt. Als äußere Kräfte wirken die Gewichtskraft im Schwerpunkt und die Reifenkräfte im Radaufstandspunkt auf das Motorrad. Die Reifenkräfte sind die Seitenkraft radial zum Kurvenmittelpunkt sowie die Radlast vertikal (beide nicht eingezeichnet).

Der Betrag von Zentripetalkraft bzw. Zentrifugalkraft berechnet sich aus der Bahngeschwindigkeit und dem Krümmungsradius der Bahn :

Wählt man als Bezugspunkt für das Momentengleichgewicht den Radaufstandspunkt, muss die resultierende Kraft aus Fliehkraft und Gewichtskraft durch den Radaufstandspunkt gehen, wenn das Motorrad nicht umkippen soll. Die Reifenkräfte, die die Zentripetalkraft ausüben, brauchen beim Momentengleichgewicht nicht berücksichtigt zu werden, da sie bezüglich des Bezugspunkts (Radaufstandspunkt) keinen Hebelarm besitzen und dadurch kein Moment erzeugen. Für die Schräglage ergibt sich

mit der Erdbeschleunigung , und der Radialbeschleunigung .

Wellrad

Wellrad mit zwei Massen

Bei einem Wellrad sind zwei an Seilen aufgehängte Schwerpunktmassen und über eine Rolle mit unterschiedlichen Radien und miteinander verbunden. Vereinfachend wird angenommen, dass die Rolle kein Trägheitsmoment besitzt.

Durch Freischneiden am Seil mit den Seilkräften ergeben sich die Bewegungsgleichungen der beiden Massen. Die y-Richtung ist nach unten positiv definiert.:

Für die Seilkräfte ergibt sich somit:

Die Beschleunigungen können durch die Winkelbeschleunigung ausgedrückt werden:

Das Momentengleichgewicht an der Welle, bei dem die Trägheitskräfte der Massen eingehen lautet:

Falls nur die Seilkräfte von Interesse sind, können diese bei vorgegebener Winkelbeschleunigung berechnet werden. Bei unbekannter Winkelbeschleunigung werden die Seilkräfte in die Beziehung für das Momentengleichgewicht eingesetzt:

umgestellt:

Damit lautet die Bewegungsgleichung des Wellrades:

.

Die Trägheitswirkung der beiden Massen kann auch dem Wellrad zugeschlagen werden. Das statische Moment der beiden Massen wird durch ein äußeres Moment ersetzt. Es ergibt sich der Drallsatz in der bekannten Form:

,

mit .

Der Drallsatz kann weiter verallgemeinert werden. Er ist also auch auf eine Konfiguration anwendbar, bei der eine der beiden Massen Null ist. Beispielsweise könnte die Masse durch eine Person ersetzt werden, die am Seil zieht. Weiter könnte dem Wellrad ein eigenes Trägheitsmoment zugeordnet werden.

.

Bei der Atwoodschen Fallmaschine sind beide Radien gleich und die beiden Massen . Gesucht ist die translatorische Beschleunigung der Masse :

Schwingende Atwoodsche Maschine

Schwingende atwoodsche Maschine (SAM)

Bei der schwingenden Atwoodschen Maschine führt die Masse eine ebene Pendelbewegung mit veränderlicher Pendellänge durch. Das undehnbare Seil, das die Massen und verbindet, bewegt sich über reibungsfreie, punktförmige Aufhängungen.

Die Beschleunigung der Pendelmasse kann im mitrotierenden Bezugssystem durch die Freiheitsgrade Pendellänge und Winkel ausgedrückt werden.

Die Schnittkräfte am Seil und (Zug > 0) stehen im Gleichgewicht mit den Gewichtskräften und den Trägheitskräften:

:
:

Am masselosen Seil gilt:

:

Daraus folgt für mit

In tangentialer Richtung gilt:

Für gibt es zahlreiche Schwingungsformen.[7]

Einzelnachweise

  1. Werner Hauger, Walter Schnell, Dietmar Gross: Technische Mechanik. Band 3: Kinetik. Springer, 1993, S. 168–171 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  2. Dietmar Gross, Werner Hauger, Jarg Schrader, Wolfgang A. Wall: Technische Mechanik. 10. Auflage. Band 3 Kinetik. Gabler Wissenschaftsverlage, 2008, S. 191 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche): „Wir schreiben nun und fassen das negative Produkt aus der Masse und der Beschleunigung formal als eine Kraft auf, die wir […] D'Alembertsche Trägheitskraft nennen: . Diese Kraft ist keine Kraft im Newtonschen Sinne, da zu ihr keine Gegenkraft existiert (sie verletzt das Axiom actio=reactio!); wir bezeichnen sie daher als Scheinkraft.“
  3. Cornelius Lanczos: The Variational Principles of Mechanics. Courier Dover Publications, New York 1986, ISBN 0-486-65067-7, S. 88–110. (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche): „We now define a vector I by the equation I = -m A. This vector I can be considered as a force created by the motion. We call it the "force of inertia". With this concept the equation of Newton can be formulated as follows: F + I = 0.“
  4. Georg Hamel: Elementare Mechanik. Leipzig, Berlin 1912, Kap. VII, §37, S. 302 f. (Hamel verwendet das dynamische Gleichgewicht. Textarchiv – Internet Archive„Diese Gleichung, die eigentlich keine andere als die Newtonsche Grundgleichung ist, heiße in dieser Form der D’Alembertsche Ansatz.“)
  5. W. Schiehlen: Technische Dynamik: Eine Einführung in die analytische Mechanik und ihre technischen Anwendungen. Teubner, 1986, S. 87–88 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche): „Bemerkenswert, aber häufig übersehen, ist die Tatsache, dass im D'Alembertschen Prinzip die eingeprägten und nicht die äußeren Kräfte erscheinen. Das D'Alembertsche Prinzip erlaubt deshalb - entsprechend dem Prinzip der virtuellen Arbeit - die Aufstellung von Bewegungsgleichungen ohne direkte Berücksichtigung der Reaktionskräfte.“
  6. Istvan Szabo: Geschichte der Mechanischen Prinzipien. Springer-Verlag, 1987, S. 40. Die geistige Tat eines bedeutenden Mannes wird zu einer Gleichungsumstellung degradiert. (Fußnote). Mit derselben Berechtigung könnte man sagen: sin(alpha)/sin(beta)=a/b ist in der Form sin(alpha)/sin(beta)-a/b=0 ein neuer geometrischer Satz!
  7. Smiles and Teardrops. Originalarbeit (1982)