Die drei Sprachen

Die drei Sprachen ist ein Märchen (ATU 517, 725, 671). Es steht in den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm ab der 2. Auflage von 1819 an Stelle 33 (KHM 33). Zudem ist es auch im rätoromanischen,[1] italienischen[2] und französischen[3] Sprachraum sowie in der Schweiz bekannt.[4]

Inhalt

Ein alter Graf schickt seinen einzigen Sohn, weil er nicht lernen kann, dreimal für je ein Jahr zu berühmten Meistern. Danach sagt der Sohn, er habe gelernt, was die Hunde bellen, was die Vögel sprechen und schließlich, was die Frösche quaken. Der zornige Vater verstößt seinen Sohn. Seine Leute sollen ihn im Wald töten, aber sie haben Mitleid und bringen stattdessen Augen und Zunge eines Rehs zum Wahrzeichen. Auf seiner Wanderung erlöst der Jüngling eine Gegend von spukenden Hunden, indem er einen Schatz unter einem Turm hebt, weil er ihre Sprache versteht. Er geht nach Rom. Die Kardinäle wollen ihn als Papst, weil sich zwei weiße Tauben zum Wunderzeichen Gottes auf seine Schultern setzen. Er hatte es schon unterwegs von den Fröschen gehört, was ihn nachdenklich und traurig gemacht hatte. Er stimmt zu, als die Tauben ihm zureden. Als er eine Messe lesen muss, sagen sie ihm alles in sein Ohr.

Herkunft

Illustration von Otto Ubbelohde, 1909

Grimms Anmerkung nennt den Übersender Hans Truffer aus Oberwallis und bemerkt, das Märchen könnte Papst Silvester II. oder Innozenz III. meinen.[5] Siehe auch Gregorius von Hartmann von Aue. Bis zur 6. Auflage bekam der Held auch die Tochter des von den Hunden erlösten Landes zur Frau, „und sie lebten vergnügt zusammen“, was bei seinem späteren Papstberuf wohl nicht passte. Ab der 7. Auflage heißt es stattdessen „und das Land war von der Plage befreit.“ Die Wendung, sie „krümmten ihm kein Härchen“ war gängig, etwa in Tiecks Der getreue Eckart, ähnlich in KHM 20, 48, 120.[6] Das Märchen ist ab dem Mittelalter vielfach ähnlich nachweisbar, am ältesten in Johannes Gobis Sammlung Scala coeli (Nr. 520).[7]

Vergleiche KHM 42 Der Herr Gevatter und KHM 44 Der Gevatter Tod. Zum dummen Sohn, der sich als weise herausstellt, vgl. KHM 28 Der singende Knochen, KHM 54 Der Ranzen, das Hütlein und das Hörnlein, KHM 57 Der goldene Vogel, KHM 62 Die Bienenkönigin, KHM 63 Die drei Federn, KHM 64 Die goldene Gans, KHM 97 Das Wasser des Lebens, KHM 106 Der arme Müllerbursch und das Kätzchen, KHM 165 Der Vogel Greif, KHM 64a Die weiße Taube. Vgl. in Giambattista Basiles Pentameron I,6 Die Aschenkatze.

Versionen

Das Märchen ist unter gleichem Titel auch in Otto Sutermeisters Kinder- und Hausmärchen aus der Schweiz (Aarau 1869, Nr. 11) zu finden.[4] In einer rätoromanischen Version heilt der Protagonist eine Königstochter und rettet er die Stadt Rom, indem er Buße predigt, bevor er durch eine Taube Papst wird. Diese Version wurde von Caspar Decurtins in der Cadi, Surselva gesammelt und als Da quel che saveva il lungatg dils animals in dem Werk Rätoromanische Chrestomathie (Erlangen 1901, Band 2, Nr. 56) veröffentlicht. Erstmals ins Deutsche übersetzt wurde sie in Leza Uffers Werk Die Märchen der Weltliteratur – Rätoromanische Märchen, in dem sie den Titel Von dem, der die Sprache der Tiere konnte erhielt.[1] In Paul Heyses Version aus seinem Werk Italienische Volksmärchen (München 1914), die im Deutschen den Titel Die Sprache der Tiere trägt, wird ein Schatzmeister, durch die Sprache der Hunde, vor einem Überfall gewarnt und zudem eine Königstochter geheilt.[2] Ähnliches wird in einer gleichnamig übersetzten französischen Version aus dem Werk Littérature orale de la Basse-Normandie (Paris 1883) von Jean Fleury erzählt, in der sich während der Papstwahl ein Stück Himmel, womit wohl eine Wolke gemeint ist, auf den Jüngling herablässt.[3]

Interpretation

Illustration von John Batten, 1916

Walter Scherf zufolge handelt es sich um eine Verschränkung aus dem Erlernen der Tiersprachen (AaTh 671) mit der Erhöhung eines jungen Mannes (AaTh 725). Meist zürnt der Vater dann über eine ihn vor dem Sohn erniedrigende Prophezeiung, so in Afanassjews Die Vogelsprache (Narodnye russkie skazki, Russische Volksmärchen, Nr. 247). Doch auch die Hebung des Schatzes, die dem jungen Mann Ansehen vor einem Burgherrn verschafft, kann man als Rest eines Vaterkonflikts sehen. Wunderzeichen der weißen Tauben passen auch in Legenden wie Gregor der Große, Kunibert von Köln, Severus von Ravenna. Ein richtiges Zaubermärchen ist Der Traum des Prinzen in Johann Georg von Hahns Griechische und albanesische Märchen, Nr. 45.[8]

Anthroposoph Rudolf Meyer versteht die Schlussszene mit den Tauben als Pfingstmysterium (wie KHM 21), da die alten Traditionen erstorben sind. Moderne Technik arbeite allenthalben mit unterirdischen Kräften und Schätzen.[9] Auch Edzard Storck spricht beim Hundegebell von sehnsüchtigem Harren des Kreatürlichen (Röm 8,19 EU), bei den Tauben vom Gnadenwirken des Heiligen Geistes.[10]

Laut Bruno Bettelheim passt die Verstoßung mit Mordversuch, wie in Schneewittchen, zu einem pubertären Konflikt. Der vom Vater unverstandene Lernstoff stelle offenbar dessen Autorität in Frage. Hunde stehen Menschen besonders nahe und verträten hier das Ich, wobei das Schatzhüten auch auf Analbesitzgier hinweise. Mit Vogel- und Froschsprache (die Elemente Luft und Wasser) integriere der Held auch Über-Ich und Es. Die Frösche als Amphibien verkörperten den Übergang von einer niedrigeren auf eine höhere Lebensstufe und Sexualität. Die integrierte Persönlichkeit vermag nun auf die weißen Tauben zu hören, in der religiösen Symbolik der Heilige Geist.[11]

Das Märchen gilt wegen der Sprache der Tiere, die schweigend erlernt wird, als Beispiel für schamanistische Wurzeln im Erzählgut.

Literatur

  • Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen. Mit 184 Illustrationen zeitgenössischer Künstler und einem Nachwort von Heinz Rölleke. Vollständige Ausgabe, 19. Auflage. Artemis und Winkler, Düsseldorf u. a. 2002, ISBN 3-538-06943-3, S. 207–209.
  • Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen. Mit den Originalanmerkungen der Brüder Grimm. Band 3: Originalanmerkungen, Herkunftsnachweise, Nachwort (= Universal-Bibliothek 3193). Mit einem Anhang sämtlicher, nicht in allen Auflagen veröffentlichten Märchen und Herkunftsnachweisen herausgegeben von Heinz Rölleke. Nachdruck, durchgesehene und bibliografisch ergänzte Ausgabe. Reclam, Stuttgart 1994, ISBN 3-15-003193-1, S. 75–76, 456.
  • Brüder Grimm: Die schönsten Märchen. Ausgewählt von Ute Bogner. Delphin-Verlag, München u. a. 1984, ISBN 3-7735-5183-5, S. 208–211.
  • Hans-Jörg Uther: Handbuch zu den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm. Entstehung – Wirkung – Interpretation. de Gruyter, Berlin u. a. 2008, ISBN 978-3-11-019441-8, S. 84–85.
  • Otto Sutermeister: Kinder- und Hausmärchen aus der Schweiz. H.R. Sauerländer, Aarau 1869, S. 24–29.[4]
  • Paul Heyse: Italienische Volksmärchen. Lehmann, München 1914, S. 91–94.[2]
  • Ré Soupault (Hrsg. und Übert.): Die Märchen der Weltliteratur – Französische Märchen. Eugen Diederichs Verlag, Düsseldorf / Köln 1963, S. 261–268, 327.
  • Leza Uffer (Hrsg. und Übers.): Die Märchen der Weltliteratur – Rätoromanische Märchen. Eugen Diederichs Verlag, Düsseldorf / Köln 1973, S. 15–17, 274.
  • Ré Soupault (Hrsg.): Die Märchen der Weltliteratur – Französische Märchen – Volksmärchen des 19. und 20. Jahrhunderts. Eugen Diederichs Verlag, München 1989, S. 160–167, 286.

Siehe auch

  • Die symbolische Bedeutung der Zahl Drei in den Märchen.
Wikisource: Die drei Sprachen – Quellen und Volltexte

Einzelnachweise

  1. a b Leza Uffer (Hrsg. und Übers.): Die Märchen der Weltliteratur – Rätoromanische Märchen. Eugen Diederichs Verlag, Düsseldorf / Köln 1973, S. 15–17, 274.
  2. a b c Paul Heyse: Die Sprache der Tiere. In: Italienische Volksmärchen. Lehmann, München 1914, S. 91–94; Digitalisat. zeno.org.
  3. a b Ré Soupault (Hrsg. und Übert.): Die Märchen der Weltliteratur – Französische Märchen. Eugen Diederichs Verlag, Düsseldorf / Köln 1963, S. 261–268, 327.
  4. a b c Otto Sutermeister: Die drei Sprachen. In: Kinder- und Hausmärchen aus der Schweiz. H.R. Sauerländer, Aarau 1869, S. 24–29; Digitalisat. zeno.org.
  5. Wikisource: Grimms Anmerkung zu Die drei Sprachen
  6. Lothar Bluhm und Heinz Rölleke: „Redensarten des Volks, auf die ich immer horche“. Märchen - Sprichwort - Redensart. Zur volkspoetischen Ausgestaltung der Kinder- und Hausmärchen durch die Brüder Grimm. Neue Ausgabe. S. Hirzel Verlag, Stuttgart/Leipzig 1997, ISBN 3-7776-0733-9, S. 70–71.
  7. Hans-Jörg Uther: Handbuch zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. de Gruyter, Berlin 2008, ISBN 978-3-11-019441-8, S. 84–85.
  8. Walter Scherf: Das Märchenlexikon. Band 1. C. H. Beck, München 1995, ISBN 978-3-406-51995-6, S. 224–226.
  9. Rudolf Meyer: Die Weisheit der deutschen Volksmärchen. Urachhaus, Stuttgart 1963, S. 125–132, 185.
  10. Edzard Storck: Alte und neue Schöpfung in den Märchen der Brüder Grimm. Turm Verlag, Bietigheim 1977, ISBN 3-7999-0177-9, S. 221, 265.
  11. Bruno Bettelheim: Kinder brauchen Märchen. 31. Auflage 2012. dtv, München 1980, ISBN 978-3-423-35028-0, S. 113–119.