Amor fati
Amor fati (lateinisch fĂźr âLiebe zum Schicksalâ) ist eine vom deutschen Philosophen Friedrich Nietzsche geprägte Maxime, durch die er den Zustand der hĂśchstmĂśglichen Lebensbejahung fĂźr den Menschen greifbar machen will.
Begriffsgeschichte
Diese lateinische Devise wurde nicht, wie oft angegeben,[2] im Altertum von den Stoikern, sondern erst im Januar 1882 in Genua von Nietzsche selbst im vierten Buch der FrĂśhlichen Wissenschaft geprägt.[3][4] Er sah sich zwar selbst als den âletzten Stoikerâ an,[5] glaubte aber nicht an die âWeltvernunftâ und wollte die Empfindlichkeit auch nicht betäuben, im Gegenteil.[6] Der Ausdruck des âamor fatiâ enthält eher einen polemischen Anklang an Spinozas âAmor intellectualis Deiâ (intellektuelle Liebe zu Gott)[7] und bedeutet ein heidnisches Ja zur Welt im Ganzen, mit dem Wissen, dass in der Zeit des Nihilismus âGott tot istâ.[8] Nietzsche prophezeite eine europäische Wertkrise, durch welche sich die SelbstĂźberwindung des Nihilismus von âWillen zum Nichtsâ zum Wollen der ewigen Wiederkehr umkehren sollte, und zwar umgewandelt zu einer dionysischen Bejahung der âFatalität alles dessen, was war und was sein wirdâ.[9][10] In dieser tragisch-heroischen Haltung war bereits vorgebildet, was er später âPessimismus der Stärkeâ und âamor fatiâ nannte.[11]
Moralische Bedeutung
Nietzsches âWunschâ ist zunächst nur die âReduktion der Moral auf Ăsthetikâ: âLernen wir die Dinge schĂśn sehen und uns immer dabei wohlfĂźhlen: so werden wir die Dinge schĂśn machenâ. In der sogenannten âReinschriftâ ergänzt er diesen Vorsatz: Er will nun die Dinge als schĂśn und ânothwendigâ sehen. In der Aufzeichnung, in der der Begriff des amor fati im Herbst 1881 zum ersten Mal auftaucht, geht es auch um die VerschĂśnerung des NĂśtigen, um die Liebe zum Notwendigen:[12]
âZuerst das NĂśthige â und dies so schĂśn und vollkommen als du kannst!, 'Liebe das, was nothwendig ist' - amor fati dies wäre meine Moral, thue ihm alles Gute an und hebe es Ăźber seine schreckliche Herkunft hinauf zu dir.â
âAmor fatiâ ist somit die ethisch-ästhetische Erscheinungsform eines Fatalismus, der zur Ăberwindung des Nihilismus dienen soll.[13][14] In der FrĂśhlichen Wissenschaft erweist sich dann der âamor fatiâ als die antinihilistische Formel zur Bezeichnung des âhĂśchsten Zustands, den ein Philosoph erreichen kann: dionysisch zum Dasein stehenâ:
âAmor fati: das sei von nun an meine Liebe! Ich will keinen Krieg gegen das Hässliche fĂźhren. Ich will nicht anklagen, ich will nicht einmal die Ankläger anklagen. Wegsehen sei meine einzige Verneinung! Und, Alles in Allem und GroĂen: ich will irgendwann einmal nur noch ein Ja-sagender sein!â[15]
Damit verwirft Nietzsche den romantischen Pessimismus, wie er in der Willensphilosophie Schopenhauers und in der Musik Wagners seine ausdrucksvollste Form gefunden hätte, als âdas letzte groĂe Ereignis im Schicksal unserer Culturâ und benennt den Pessimismus der Zukunft als den âdionysischen Pessimismusâ. Dieser enthält auch âdas Verlangen nach ZerstĂśrung, Wechsel und Werdenâ, aber als âAusdruck der Ăźbervollen, zukunftsschwangeren Kraftâ und der Wille zum Verewigen komme er âaus Dankbarkeit und Liebeâ.[16] In dem Nachlassfragment vom Herbst 1887: âMein neuer Weg zum âJa'â Ăźberschrieben, verschränkt Nietzsche den Topos des Dionysischen mit dem des Amor fati.[17]
In Ecce homo radikalisiert der späte Nietzsche noch einmal seine Formel des â[a]mor fatiâ, wenn er es sogar als die âGrĂśsse am Menschenâ ausmacht, dass er seine âphysiologische Contiguitätâ, seine leibliche Zufälligkeit, in dem natĂźrlichen Weltzusammenhang bejahend anerkennt:[18]
âMeine Formel fĂźr die GrĂśsse am Menschen: Das Nothwendige nicht bloss ertragen, noch weniger verhehlen sondern es lieben.[19]â
Interpretationen
Bei den sogenannten konservativen Revolutionären um Ernst Niekisch und Ernst JĂźnger wurde Nietzsches âamor fatiâ wortreich beschworen.[20] Unter diesem Banner wollte JĂźnger vor allem das Schicksal der Moderne bejahen, ihre Technik, ihre Gewalt, ihre gesellschaftlichen UmbrĂźche.[21] Der Philosoph Martin Heidegger sagte 1937 zu âamor fati â die Liebe zur Notwendigkeitâ:[22]
âAllein dieses Wort spricht nur dann Nietzsches metaphysische Grundstellung aus, wenn wir die beiden Worte amor und fatum und vor allem ihren ZusammenschluĂ aus Nietzsches eigenstem Denken verstehen und nicht beliebige landläufige hineinmischen. Amor â die Liebe, nicht als eine Sentimentalität, sondern metaphysisch als Wille, der Wille, der will, daĂ das Geliebte in seinem Wesen sei, was es ist. Der hĂśchste und weiteste und entschiedenste Wille dieser Art ist der Wille als Verklärung, der das in seinem Wesen Gewollte in die hĂśchsten MĂśglichkeiten seines Seins hinaus- und hinaufstellt. Amor fati ist der verklärende Wille zur ZugehĂśrigkeit zum Seiendsten des Seienden. Das fatum ist wĂźst und wirr und niederschlagend fĂźr den, der nur dabeisteht und sich davon befallen läĂt. Das fatum aber ist erhaben und die hĂśchste Lust fĂźr den, der weiĂ und begreift, daĂ er, als Schaffender, und d. h. immer als Entschiedener, dazugehĂśrt. Dieses Wissen aber ist nichts anderes als das Wissen, das in jener Liebe notwendig mitschwingt.â
Karl Jaspers kommentierte:[23]
âWenn Nietzsche in seiner Lehre die âVollendung des Fatalismusâ (13, 75) sieht, so ist dieser also keineswegs der Zwang, wie er in der Kategorie der Notwendigkeit als Naturgesetz oder als irgendeine erkennbare Ordnung gedacht wird.â Das Fatum entziehe sich nicht nur aller bestimmten Denkbarkeit, sondern werde im Ausgesagtsein selbst widersprĂźchlich: âHĂśchster Fatalismus doch identisch mit dem Zufalle und dem SchĂśpferischen.â[24]
In Nietzsches Lehre vom amor fati geschehe, Walter Schulz zufolge, die Vermittlung von Subjekt und Welt. Das Jasagen zum Verhängnis sei ein durch und durch paradoxer Begriff. Er besage, dass der Mensch sich selbst seiner Freiheit begebe, weil er schon immer durch den sinnlosen Preis von ihr losgesprochen sei.[25]
Babette Babich bezeichnet die Verbindung von Wissenschaft (Notwendigkeit) und Kunst (Kreativität) als âdie Kunst des Lebens, die tiefste Errungenschaft von Nietzsches frĂśhlicher Wissenschaftâ, so wie er es nach dem lyrischen Vorspann Ăźber den Sanctus Januaris im einleitenden Aphorismus (276) als âseinen Wunsch und liebsten Gedankenâ ausspricht.[26]
Siehe auch
Literatur
- Elizabeth Grosz: Nietzsche and Amor Fati. In: The Incorporeal: Ontology, Ethics, and the Limits of Materialism, New York Chichester, West Sussex, Columbia University Press, 2017. S. 92â129.
- OkČchi RyČgi: Nietzsches Amor fati im Lichte von Karma des Buddhismus. Nietzsche-Studien, Band 1, Heft 1, 1972. S. 36â94.
- Christoph TĂźrcke: Nietzsches amor fati: Eine Subversion. Nietzsche als Kritiker und Denker der Transformation, hrsg. von Helmut Heit und Sigridur Thorgeirsdottir, Berlin, Boston. De Gruyter, 2016. S. 155â164.
Einzelnachweise
- â Zitiert nach Peter Villwock: Genua. In: Albert T. Schaefer: Nietzsche. SĂźden. Hrsg. vom Stiftungsrat Nietzsche-Haus in Sils-Maria. Innsbruck 2000, S. 50â57.
- â Klaus Bernath verweist zum Beispiel auf die âstoische Bejahung der Heimarmene, vertreten etwa durch Kleanthesâ. Klaus Bernath: âAmor fatiâ. In: Joachim Ritter (Hrsg.): Historisches WĂśrterbuch der Philosophie. Band 1. Basel/Darmstadt 1971, S. 206. Zitiert nach Kiyoshi Nishigami: Nietzsches Amor fati. Der Versuch einer Ăberwindung des europäischen Nihilismus. Frankfurt am Main / Berlin / Bern / New York / Paris / Wien 1993, S. 227. Siehe auch Marco Brusotti: Die Leidenschaft der Erkenntnis. Philosophie und ästhetische Lebensgestaltung bei Nietzsche von âMorgenrĂśtheâ bis âAlso sprach Zarathustraâ. Berlin 1997, S. 456.
- â Aphorismus 276, KSA 3, S. 521.
- â Pierre Hadot: La Citadelle intĂŠrieure: Introduction aux PensĂŠes de Marc Aurèle, S. 102f.
- â Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und BĂśse, §227; Kiyoshi Nishigami: Nietzsches Amor fati. Der Versuch einer Ăberwindung des europäischen Nihilismus. Frankfurt am Main / Berlin / Bern / New York / Paris / Wien 1993, S. 227: âDarĂźber hinaus sieht sich Nietzsche ja selbst als den âletzten Stoikerâ an, und er hat guten Grund dazu.â
- â Alexander-Maria Zibis: Die Tugend des Mutes. Nietzsches Lehre von der Tapferkeit. WĂźrzburg 2007, S. 91; Henning Ottmann: Philosophie und Politik bei Nietzsche. Berlin 1987, S. 210.
- â Vgl. hierzu Yirmiyahu Yovel: Spinoza and Other Heretics. Band 2: The Adventures of Immanence. Princeton 1989, S. 104; Marco Brusotti: Die Leidenschaft der Erkenntnis. Philosophie und ästhetische Lebensgestaltung bei Nietzsche von âMorgenrĂśtheâ bis âAlso sprach Zarathustraâ. Berlin 1997, S. 454.
- â Manfred Geier: Geistesblitze: Eine andere Geschichte der Philosophie. Rowohlt E-Book, 2013, ISBN 978-3-644-03441-9 (google.de [abgerufen am 30. April 2023]).
- â Friedrich Nietzsche: GĂśtzen-Dämmerung, IrrtĂźmer 8; KSA 6, S. 96.
- â Young-Im Yang: Das Phänomen der Verneinung: philosophisch, psychologisch und im Kulturvergleich untersucht. KĂśnigshausen & Neumann, 2005, ISBN 978-3-8260-3073-4 (google.de [abgerufen am 30. April 2023]).
- â Heinz Malorny: Zur Philosophie Friedrich Nietzsches. Akademieverlag, Berlin 1989, S. 86; Damir BarbariÄ: Im Angesicht des Unendlichen. Zur Metaphysikkritik Nietzsches. WĂźrzburg 2011, S. 82.
- â Zitiert nach Marco Brusotti: Die Leidenschaft der Erkenntnis. Philosophie und ästhetische Lebensgestaltung bei Nietzsche von âMorgenrĂśtheâ bis âAlso sprach Zarathustraâ. Berlin 1997, S. 456.
- â Kiyoshi Nishigami: Nietzsches Amor fati. Der Versuch einer Ăberwindung des europäischen Nihilismus, Frankfurt/M. u. a. 1993, S. 264.
- â Eike Brock: Nietzsche und der Nihilismus. Berlin 2015, S. 11.
- â Friedrich Nietzsche: Die frĂśhliche Wissenschaft, Viertes Buch, Aphorismus 276 âZum neuen Jahreâ (KSA 3, S. 521). Siehe auch Die GĂśtzendämmerung, 115: âDas Notwendige verletzt mich nicht; amor fati ist meine innerste Natur.â Nachlass, XII, 141: âJa! Ich will nur das noch lieben, was notwendig ist! Ja! amor fati sei meine letzte Liebe!â
- â Friedrich Nietzsche: Die frĂśhliche Wissenschaft, Viertes Buch, Aphorismus 370. Zitiert nach GĂźnter Gersting, Nietzsches Kunst des Ăberschreitens: eine Provokation, [Dissertation Friedrich-Schiller-Universität Jena], Jena 2013, S. 67.
- â Jutta Georg und Claus Zittel: Nietzsches Philosophie des Unbewussten. Berlin/Boston 2012, S. 120.
- â Sarah Bianchi: Einander nĂśtig sein: Existentielle Anerkennung bei Nietzsche, Fink, 2016, S. 89.
- â 6, 10, 297.
- â K. von Beyme: Politische Theorien im Zeitalter der Ideologien 1789-1945. Wiesbaden, Westdeutscher Verlag, 2002, S. 501.
- â Thomas Hettche in: Ernst JĂźnger: Späte Rache: Erzählungen, S. 92.
- â Martin Heidegger: Nietzsche I, GA 44, Frankfurt a. Main 1975, S. 232.
- â Karl Jaspers: Nietzsche. EinfĂźhrung in das Verständnis seines Philosophierens. Berlin 1981, S. 366.
- â KSA, NF, 11, 292.
- â Walter Schulz: Subjektivität im nachmetaphysischen Zeitalter. Pfullingen: Neske 1992, S. 217.
- â Babette E. Babich: HĂśren und Lesen, Musik und Wissenschaft Nietzsches Âťgaya scienzaÂŤ. In: Beatrix Vogel (Hrsg.): Der Mensch - sein eigenes Experiment? MĂźnchen 2008, S. 514.