Altrussisches Volk

Das altrussische Volk (russisch Древнерусская народность, ukrainisch Давньоруська народність) wird einer Konzeption zufolge als eine einheitliche Ethnie angesehen, die sich aus ostslawischen Stämmen in der Kiewer Rus herausbildete. Die Grundlagen für diese Theorie wurden von Sergei Tokarew gelegt und von Boris Rybakow und Pjotr Tretjakow weiterentwickelt. Dieses Konzept ist unter Historikern jedoch umstritten und wird in der deutschen Historiographie weitgehend abgelehnt.

Als Merkmale der ethnischen Zusammengehörigkeit führen die Vertreter dieses Konzeptes die (historisch umstrittene) Benutzung einer gemeinsamen altrussischen Sprache, enge regionale politische und wirtschaftliche Verbindungen, eine gemeinsame geistige und materielle Kultur, eine gemeinsame russisch-orthodoxe Religion, gleiches Recht, Bräuche, Traditionen und Kriegswesen, ein gemeinsamer Kampf gegen äußere Feinde sowie das in den Quellen abgebildete Bewusstsein der Zusammengehörigkeit der Rus an. Auch das ab der Mitte des 12. Jahrhunderts einsetzende Verschwinden der alten Stammesbezeichnungen aus den Quellen zugunsten der Bezeichnung „russische Menschen“ wird als Argument für eine ethnische Einheitlichkeit herangezogen. Eine Differenzierung der Ostslawen würde in den Quellen dieser Zeit nur in Bezug auf die wechselnde politische Landschaft vorgenommen und drücke kein ethnisches Bewusstsein aus. Regionale Unterschiede in der materiellen Kultur seinen unzureichend, da sie von ihren Trägern offenbar nicht als Merkmale einer besonderen eigenen Ethnie empfunden würden. Nicht zuletzt verweisen die Vertreter der Konzeption des altrussischen Volkes auf komparative Untersuchungen mit anderen Ländern und Regionen Europas (Deutschland, Frankreich, Skandinavien, Polen), die ein größeres gemeinsames ethnisches Bewusstsein in der Rus in dieser Epoche demonstrieren.

Gegner der Theorie eines einheitlichen Altrussischen Volkes führen an, dass innerhalb der relativ kurzen Zeitspanne von zwei Jahrhunderte vor der mongolischen Invasion keine einheitliche Ethnie auf einem derart großen Gebiet entstanden sein konnte. Weiterhin war die territoriale Integrität der Kiewer Rus durch die Lockere Föderation verschiedener Fürstentümer relativ. Das Gebiet der Rus war darüber hinaus ungleichmäßig bevölkert und die Bevölkerung bestand aus baltischen, türkischen und finno-ungarischen Stämmen. Weiterhin lässt sich die Gemeinsamkeit in Sprache, Kult und Kultur nur unter den Herrschern feststellen, nicht aber für die Bevölkerung.[1][2] Für eine vermeintliche gemeinsame Umgangssprache in der Kiewer Rus gibt es keine Belege.[3] Volodymyr Rachka und Petro Tolochko schlagen vor, deshalb den Begriff „Altrussiche ethnokulturelle Gemeinschaft“ zu benutzen, welche die verschiedenen heterogenen Bevölkerungsgruppen auf der Kiever Rus subsumiert.[4] Neue deutschsprachige Forschung benutzt keinen dieser Begriffe und lehnt das Konzept einer einheitlichen Ethnie in der Kiewer Rus ab.[5]

Literatur

  • Третьяков, П.Н. У истоков древнерусской народности, «Наука», 1970
  • Лебединский, М.Ю. К вопросу об истории древнерусской народности. Москва, 1997
  • Седов, В.В. Древнерусская народность. М.: Языки русской культуры, 1999
  • Толочко, П.П. Древнерусская народность: воображаемая или реальная. – СПб.: Алетейя, 2005

Einzelnachweise

  1. Крупник Л. О. Історія України. 3.Проблема походження українців. Архів оригіналу за 4 квітня 2019. Процитовано 26 березня 2019.
  2. Етнічні процеси в Київській Русі. Питання про давньоруську народність // Політична історія України: Навчальний посібник / В. А. Греченко, В. І. Танцюра та ін.; Під ред. В. І. Танцюри. — 2-е вид., доп. — К.: Академвидав, 2008. — 552 с. — (Альма-матер). — ISBN 978-966-8226-70-0
  3. Kappeler, Andreas: Revisionismus und Drohung. Vladimir Putins Text zur Einheit von Russen und Ukrainern, in Osteuropa 7 (2021), S. 71.
  4. Юсова Н. М. Давньоруської народності концепція [Архівовано 27 березня 2013 у Wayback Machine.] // Енциклопедія історії України: Т. 2: Г-Д / Редкол.: В. А. Смолій (голова) та ін. НАН України. Інститут історії України. — К.: В-во "Наукова думка", 2004. — 688 с.
  5. Andreas Kappeler: Rußland als Vielvölkerreich: Entstehung – Geschichte – Zerfall. München 1992, ISBN 3-406-36472-1, S. 19–24 [Neuaufl. 2001: ISBN 3-406-47573-6]. Sowie ders.: Kleine Geschichte der Ukraine. München 1994, ISBN 3-406-37449-2 [Neuaufl. 2000: ISBN 3-406-45971-4], S. 37: „Das Kiever Reich war kein ukrainischer oder russischer Nationalstaat, sondern wie die meisten vormodernen Herrschaftsbildungen ein Vielvölkerreich, das nicht nur von Slawen, sondern auch von finnisch-, baltisch- und turksprachigen Stämmen bewohnt war. In der Elite spielten zunächst Skandinavier, dann auch Griechen und Südslawen eine bedeutende Rolle.“